Rezension

So viel mehr, als nur eine Liebesgeschichte

Frankissstein
von Jeanette Winterson

Mary Shelley schreibt zu Beginn des 19. Jahrhunderts angeregt durch die Zusammenkunft mit Lord Byron und John Polidori in den Schweizer Bergen den erfolgreichen Schauerroman »Frankenstein«. In ihrem Text geht es um ein groteskes Zukunftsszenario, in dem ein Arzt durch Experimente einem toten Körper neues Leben einhaucht. Ein Jahrhundert später verliebt sich der Mediziner Ry Shelley in Victor Stein, einen unergründlichen Forscher auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz. In dieser fortschrittlichen Zeit der Roboter schlägt Victor Stein den Weg in eine revolutionäre Zukunft ohne biologische Gebrechen ein. Doch wie passt Liebe in seine digitale, körperlose Vision?

Jeanette Winterson zählt zu den erfolgreichsten englischen Schriftstellerinnen und mit ihrem neuen Roman »Frankissstein«, der für den Booker Prize 2019 nominiert wurde, ist die Autorin nun auch in meinem Buchregal eingezogen. Ich bin sehr froh nun auf die Autorin aufmerksam geworden zu sein, denn ihr moderner und klarer Schreibstil hat mich von der ersten Seite an begeistert – somit zählt Jeanette Winterson zu meinen persönlichen Highlights unter den Autorinnenentdeckungen des Jahres.

Beeindruckend gelingt Jeanette Winterson das Spiel mit den Sexualitäten. Sie spinnt zwischen dem heterosexuellen Wissenschaftler Victor Stein und dem transgender Arzt Ry Shelley, der zuvor eine Mary war, ein Netz aus Anziehungskraft, Lust und Liebe. Die Ambivalenz dieser Liebe ist so faszinierend wie das Licht für die Motten – man möchte sich am liebsten nicht mehr aus der Wärme dieser Gefühle lösen.

Diese außergewöhnliche Beziehung lässt Winterson mit einer Welt kollidieren, in denen die Geschäfte mit Sexrobotern florieren, Bionik-Prothesen auf das nächste Level gehoben werden und die Kryotechnik zur Konservierung des Lebens längst von revolutionäreren Vorgehensweisen abgedrängt wird, zumindest wenn es nach den zukunftsweisenden Forschungen von Victor Stein geht. Besonders schön finde ich den Toleranz-Aspekt an der Geschichte, denn das Thema Transgender wird hier auf den Tisch gebracht und besonders bei einer brutalen Szene in der dargestellt wird, wie respektlos Menschen mit Mitmenschen umgehen, die nicht mit ihrer angeborenen Sexualität leben, hat mich erschüttert.

Durchbrochen wird diese futuristisch anmutende und dennoch authentisch gezeichnete Geschichte aus dem 21. Jahrhundert von einer zweiten Ebene, die sich im 19. Jahrhundert zuträgt und die Entstehungsgeschichte des Schauerromanes »Frankenstein« in Kontext bringt. Die dichte Atmosphäre in der Mary Shelley in einer Hütte in den Bergen ihre Geschichte über Doktor Frankenstein niederschreibt, springt förmlich zwischen Jeanette Wintersons Zeilen heraus. Aber das Beste an dieser Erzählebene ist, wie die Autorin durch das Leben und Wirken der Mary Shelley eine weibliche Figur in den Mittelpunkt rückt, deren starke Persönlichkeit ein tolles Beispiel für ein selbstbestimmtes Leben der Frau zu einer von Männern geprägten Zeit abgibt.

Was für Mary Shelley und ihre Freunde noch zu den grausigsten und übersinnlichsten Vorstellungen überhaupt zählte, wird von Victor Stein mit seinen Bemühungen, den Geist eines Menschen von dem biologischen und somit sterblichen Körper zu trennen und diesen auf eine digitale Ebene zu überführen, noch auf die Spitze getrieben.

Die Symbiose aus diesen zwei intelligent erzählten Geschichten wirft zahlreiche Fragen auf und bietet dabei jede Menge Stoff für die eigenen Gedanken. Aus welchem Stoff sind wir geschaffen? Was macht Liebe aus? Kann man sich auch noch verlieben, wenn man über keinen biologischen Körper verfügt und sind die Grenzen der Geschlechter dann Geschichte?

Jeanette Winterson ist es gelungen die Inhalte des Schauerklassikers Mary Shelleys über Victor Frankensteins Monster mit einem modernen Märchen zu paaren und dabei der über ein Jahrhundert alten Essenz einen aktuellen Touch zu verleihen.

Fazit

 »Frankissstein« ist ein absolut lesenswerter Roman, der auch über die Liebesgeschichte hinaus einiges zu bieten hat, brillant geschrieben ist und über eine stark feministische Ader verfügt. Unbedingt lesen!