Rezension

Solide!

Die Charité. Aufbruch und Entscheidung - Ulrike Schweikert

Die Charité. Aufbruch und Entscheidung
von Ulrike Schweikert

Bewertet mit 3.5 Sternen

Aufgrund einer vielversprechenden Leseprobe, in der man sowohl die Hauptfiguren dieses in Berlin angesiedelten Romans als auch den Haupthandlungsort (- die königliche Charité -) kennenlernt, wagte ich mich an den Folgeband dieser Buchreihe heran, obwohl mir der erste Teil noch unbekannt war. Mein Eindruck hatte mich nicht getäuscht und dieses inhaltlich in sich geschlossene Werk kann durchaus ohne Kenntnis des Vorgängerbandes gelesen werden.

Eine Frau, die als Ärztin praktiziert - das ist kurz nach Beginn des 20. Jahrhunderts in Deutschland noch eine Seltenheit. "Inzwischen hatte der Bundesrat beschlossen, auch in Deutschland Frauen zum medizinischen Staatsexamen zuzulassen, doch die einzelnen Länder ließen sich Zeit, die Vorgabe umzusetzen. Allen voran Berlin, das seine Universitätstüren für Frauen noch immer nicht geöffnet hatte." Als die ambitionierte, in Zürich ausgebildete junge Dr. Rahel Hirsch im Jahre 1903 in Berlin eintrifft, schlägt ihr das Herz bis zum Hals – sie wird ihre erste Stelle als Ärztin antreten! Dank ihres Großvaters, der ein bekannter Rabbiner gewesen war und die fortschrittliche Meinung vertreten hatte, dass Frauen in sämtlichen Aspekten des Lebens, auch dem Berufsleben, Gleichberechtigung gebührt, war ihr zunächst die Ausbildung zur Lehrerin und später im medizinischen Bereich ermöglicht worden. Damit hat Rahel eine mehr als privilegierte Position im Vergleich zu ihren Zeitgenossinnen, deren Alltag, sofern sie sich nicht reich verheiraten können, aus knochenharter Arbeit besteht, natürlich für lediglich einen Hungerlohn. Ein Beispiel für dieses andere Frauenschicksal ist die junge Barbara, die in der Hoffnung auf Arbeit vom Land in die Großstadt gezogen war und nun bei ihrer Tante Marlene lebt. Nur mit viel Glück gelingt es ihr, eine Anstellung in der Wäscherei der Charité zu ergattern. Dr. Hirsch und Barbara könnten unterschiedlicher nicht sein, doch durch eine schicksalhafte Begegnung kreuzen sich ihre Wege. Bald schon zeigt sich, wie wichtig ihre gemeinsame Freundschaft für jede von ihnen werden wird.

Die Autorin hat für dieses Werk eine meisterhafte Recherchearbeit geleistet (- was auch anhand von authentischen Dialogen und fachspezifischen medizinischen Begriffen deutlich wird -) und viele reale geschichtliche Ereignisse und Figuren in den Roman eingebunden, angereichert durch einen Hauch Fiktion. Nach der auf die weiblichen Hauptfiguren fokussierten Einleitung hatte ich erwartet, dass auch im Laufe der Lektüre deren persönliches Schicksal im Vordergrund stehen würde. Zwar sind sowohl Rahel als auch Barbara Dreh- und Angelpunkt der Story, aber aufgrund des allgemein gehaltenen Schreibstils und des massiven Umfangs der (realen) Hintergrundinformationen wirken sie auf mich eher wie Randfiguren und ich konnte mit keiner von ihnen warmwerden. Ein Beispiel dafür ist die Bindung zwischen Rahel und ihrer Schwester Theresa, die mittels häufigen Briefkontakts als besonders innig dargestellt wird, allerdings für meinen Geschmack zu dünn und unglaubwürdig ausgearbeitet worden ist, um zu überzeugen. Auch Rahels Liebesbeziehung zum Piloten Michael hat mich nicht berühren können. Sehr sympathisch und bedeutend tiefgründiger erschien mir hingegen die Darstellung von Rahels Kollegen Dr. Brugsch.

Mir kam es ehrlich gesagt so vor, als würde ich ein sachliches Geschichts(-lehr-)buch lesen, in das ein paar Beispielcharaktere zum besseren Verständnis eingestreut worden waren. Auch die ungewöhnlich großen Zeitsprünge erschweren es, ein Gefühl von Alltag aufkommen zu lassen – oftmals umfasst ein Kapitel gleich ein bis zwei Jahre. Hier hätte es mir besser gefallen, wenn etwas Tempo herausgenommen worden und stattdessen die Erzählung eindringlicher angelegt und eventuell auf einen kürzeren Zeitraum beschränkt worden wäre. (Der abschließende Zeitsprung zwischen 1919 und 1938 hätte beispielsweise als Einleitung für einen Folgeroman mehr Sinn gemacht.)

Wenn man sich zügig darauf einstellt, dass hier kein gefühlsbetonter Roman, sondern eher eine faktische Erzählung vorliegt, ist dies eine wunderbare Quelle des Wissens. Wichtige politische Entwicklungen wie der Kampf um das Frauenwahlrecht oder die Hintergründe des Ersten Weltkriegs, aber auch der Fortschritt in der Medizin und in der Luftfahrt sowie das unterschiedliche Schicksal verschiedener gesellschaftlicher Gruppierungen (das Los von kriegsgefangenen Zwangsarbeitern, das Schicksal der Juden, etc.) finden allesamt Erwähnung. Den größten Schwerpunkt bildet die Rolle der Frau, wozu auch die Nebencharaktere Melli Beese und Asta Nielsen hinzugezogen worden sind. (Auf letztere hätte – aufgrund ihres vergleichsweise kurzen und für die Gesamthandlung unbedeutenden Gastspiels, auch wenn dieses nicht uninteressant war – zugunsten der Tiefgründigkeit der anderen Figuren verzichtet werden können.) Wenn ich dieses Werk mit einem Wort beschreiben müsste, dann wäre es 'solide', denn das ist es wahrlich.

Fazit: Ein äußerst gut recherchierter historischer Roman um politische Entwicklungen im Allgemeinen und medizinischen Fortschritt im Speziellen.