Rezension

Solide, hätte jedoch von einer Straffung profitiert

Sag den Wölfen, ich bin zu Hause - Carol Rifka Brunt

Sag den Wölfen, ich bin zu Hause
von Carol Rifka Brunt

Bewertet mit 3.5 Sternen

„Sag den Wölfen, ich bin zuhause“ ist der Debütroman der 48jährigen Autorin Carol Rifka Brunt, der damit in Amerika 2012 ein Überraschungserfolg geglückt ist. Für die deutsche Leserschaft wurde er erst in diesem Jahr übersetzt. Die Geschichte spielt in den 80er Jahren. Erzählt wird sie aus Sicht der 14jährigen June, mit der charakteristischen Stimme einer Jugendlichen zwischen Kind- und Erwachsensein: verspielt, begeisterungsfähig, schwärmerisch, mit dem starken Wunsch nach Anerkennung.

Einfühlsam und bedächtig schildert die Autorin Junes Gefühle nach dem Tod ihres an Aids verstorbenen Onkels Finn, den June über die Maßen bewundert hat und für den sie zarte Liebesgefühle hegte. Offen lässt sie June ihre Erlebnisse erzählen, in einem leichten, angenehmen Schreibstil.
Überraschend für mich war, dass die Stigmatisierung, die mit der Krankheit  Aids einherging, zwar zum Ausdruck kommt, nicht aber im Fokus steht. Vielmehr geht es um das besondere Beziehungsgeflecht innerhalb Junes Familie. Die zentralen Probleme sind nicht auf Finns Homosexualität zurückzuführen, sondern haben andere Ursachen. Da geht es einmal um Junes verwirrende Gefühle für ihren Onkel. Und um die Beziehung zu ihrer provokanten Schwester Greta. Außerdem um die Weigerung der Mutter (Finns Schwester), Vergangenes zu bewältigen. Die Vielzahl an kleinen, gärenden, aber nicht offen diskutierten Konfliktherde wirkt echt und natürlich – hier wird weder romantisiert, noch überspitzt. In welcher Familie ist schon immer heile Welt? In welcher Familie gibt es keine Kränkungen und keinen Streit?

So kreisen die Kapitel wie ein Helikopter um verfestigte, emotionale Enttäuschungen und Verletzungen. Zaghaft verändern sich dabei die Standpunkte der Schwestern innerhalb des Romans. Angestoßen von einem Porträt, das Finn kurz vor seinem Tod von ihnen gemalt hat. Und auch von dem eigenwilligen Tobi, Finns Lebenspartner, der von den Eltern geschnitten wird, mit dem sich June – in ihrem Wunsch nach Trauerbewältigung – jedoch heimlich trifft.

Eigentlich eine wunderbare Geschichte. Bisweilen aber auch schleppend. Ich habe lange, sehr lange an diesem Buch gelesen. Neben der stillen Schönheit vieler Passagen, weist der Roman doch einige Längen und Wiederholungen auf. Junes Schwärmereien für ihren perfekten, großartigen Onkel Finn waren mir zu zahlreich, zu aufdringlich, fast schon zu kitschig. Aus Sicht einer 14-jährigen mag diese Art der Idealisierung realistisch sein, zu lesen fand ich sie teilweise anstrengend. Aber nicht anstößig – Junes aufschauende Liebe zu ihrem Onkel ist im Grunde ganz unschuldig. Und wie ich finde nicht unnormal für ein heranwachsendes Mädchen.

Den Umgang mit Aids aus amerikanischer Vorstadt-Perspektive zeichnet Brunt vielfältig: zwischen Angst vor Ansteckung, allgemeiner Unschlüssigkeit, Desinteresse, Neugier und Unwissenheit umschifft sie erdrückende Klischees. Und auch die Figuren sind der Autorin gut gelungen. Wobei die problembehafte, störrische Greta der freundlichen, oft unsicheren June schnell die Show stiehlt. Für mich war Greta bei Weitem die interessanteste Figur, die die Geschichte mit ihrem besonderen Konfliktpotenzial stark bereichert hat. Das man aber auch etwas stimmiger hätte auflösen können. An ihrem Verhältnis zu June zeigt sich am intensivsten, wie schnell sich Menschen in ihren Gefühlen und Reaktionen verrennen. Wie leicht man sich einander entfremden kann und wertvolle Beziehungen in die Brüche gehen können. Umso wichtiger ist es, sich mitzuteilen und zu versuchen, andere Standpunkte zu verstehen. Eine gute Message, in die sich die Aids-Thematik einfügt!

Fazit: Ein schönes, ruhiges, authentisch anmutendes Buch. Lesenswert, jedoch mit einigen Längen!