Rezension

Späte Aufklärung

Was Nina wusste - David Grossman

Was Nina wusste
von David Grossman

Bewertet mit 4 Sternen

David Grossman präsentiert uns die Geschichte einer Patchwork-Familie, die gekennzeichnet ist von Disharmonie. Der Leser spürt gegenseitige Abneigungen, die er zunächst nicht einordnen kann. Irgendwie muss etwas in der Vergangenheit vorgefallen sein, das bis heute nachwirkt. Die drei Hauptfiguren - Vera, ihre Tochter Nina und ihre Enkelin Gili - gehen nach Vera’s 90sten Geburtstag die Ergründung des fehlenden Familienglücks an. Dazu möchte Gili einen Film drehen. Während einer Reise nach Goli Otok, das ist eine frühere Gefängnisinsel in Kroatien, soll Vera‘s Lebensgeschichte einmal komplett festgehalten werden. Ahnungen sollen Gewissheit werden.

Die hier im Vordergrund stehenden Frauen nehmen den Leser mit in die Zeit Titos. Ein  in Details weniger bekanntes, dennoch grausames Kapitel der europäischen Geschichte wird hier näher beleuchtet. Der Roman hat mir ein besseres Bewusstsein diesbezüglich verschafft. Ich bin jeweils sehr angetan, wenn man auf Basis einer Freizeitlektüre ganz nebenbei, ohne Mehraufwand noch etwas lernt.

Dabei konnte ich mich in jede der Frauen hineinversetzen, ihre Reaktionen nachvollziehen. Dadurch habe ich die Figuren als sympathisch eingestuft, auch wenn sie teilweise ein ruppiges Verhalten an den Tag gelegt haben. Am liebsten mochte ich Gili, weil sie die gemeinsame Reise forciert hatte.

Ganz toll ist die überaus feinsinnige Sprache Grossman‘s. Sein Sprachgebrauch passt sich der jeweiligen Stimmung der sprechenden/denkenden Protagonistin an. Eine wütende Protagonistin fällt durch provokante bzw. harte Wortwahl auf, ist sie ängstlich wird auch die Sprache vorsichtiger. Von daher war es leicht für mich, mitzufühlen. Besonders gut gefallen hat mir die sprachliche Aufbereitung von Vera‘s Ivrith. Der Transfer ihres Sprachgebrauchs - dass sie auch nach vielen Jahren noch spricht, wie frisch eingewandert - ins Deutsche ist für mich mehr als gelungen.

Insgesamt ein lesenswerter Roman, der auf einer wahren Geschichte beruht. Wenn ich streng urteile, war mir das Ende eigentlich zu positiv geknüpft. Nach all den Schrecken habe ich mich dennoch darüber gefreut.