Rezension

Späte Liebe, Flüchtlingsbegegnungen, Sprachkunst vom Feinsten

Widerfahrnis
von Bodo Kirchhoff

Bewertet mit 4.5 Sternen

Bodo Kirchhoff hat mit seiner Novelle 'Widerfahrnis' den Deutschen Buchpreis 2016 gewonnen. Ist er nun so umwerfend gut, dieser kurze Roman, den Kirchhoff selbst Novelle nennt? Es ist meisterlich, wie Bodo Kirchhoff die Gedanken seiner Hauptperson Reither in Worte kleidet, solche, die nicht abgegriffen sind, solche, die man mehrfach lesen müsste, sollte, will.

Wenn mir etwas widerfährt, ist es etwas, auf das ich keinen Einfluss habe. Kirchhoff sagt selbst: "eine Erfahrung, die einen Menschen umwirft". Das kann, muss aber nicht unbedingt etwas Negatives sein.

Ist es also die Liebe, die den beiden Hauptpersonen widerfährt, Leonie Palm, die ihr Hutgeschäft aufgegeben hat, weil es 'keine Hutgesichter mehr gibt' und Reither, der seinen kleinen Verlag und den Buchladen aufgegeben hat, weil heutzutage 'mehr Leute schreiben als lesen'? Oder ist es das, was in der Vergangenheit der beiden geschehen ist und an dem sie heute noch in Gedanken arbeiten? Oder ist es das, was ihnen am Ende der Reise passiert?

Beide leben in einer Appartementanlage in der Nähe des Achensees und könnten den 'Herbst des Lebens' genießen. Eines Abend klingelt Leonie Palm angeblich wegen ihres Lesekreises bei Reither; sie sind sich sympathisch, rauchen und trinken zusammen und beschließen spontan, in Leonies lange nicht benutztem Kabrio in die Berge zum Achensee zu fahren, um den Sonnenaufgang zu erleben. Als ob das nicht schon verrückt genug wäre, fahren sie einfach immer weiter, ohne Gepäck, ohne alles, ohne an die Folgen oder irgendwelche Unannehmlichkeiten zu denken.

Alles wirkt ein wenig liebenswert altmodisch, nicht nur die beiden Hauptpersonen, sondern auch die langsame gegenseitige Annäherung, das wie zufällige Berühren des Anderen, so als ob sie der Liebe nicht mehr trauen dürften, aber auch verschiedene Utensilien wie das Kabrio, die alte Lederjacke von Reither, die Kassette mit Songs von Paul Anka. Sie wechseln sich beim Fahren ab, übernachten im Auto und stecken sich ständig selbst und gegenseitig Zigaretten in den Mund, was mich ein bisschen genervt hat, dieses ständige Rauchen.

Immer weiter geht die Fahrt; zuerst schattenhaft, dann immer realer begegnet ihnen die europäische Wirklichkeit in Gestalt von Flüchtlingen. Als sie endlich in Sizilien angekommen sind, ist es ein Bettler- oder Flüchtlingsmädchen, das immer wieder auftaucht und dessen sie sich in einer Art und Weise annehmen, die daran denken lässt, dass auch dies mit der Vergangenheit zu tun haben könnte, dass es ein Versuch ist, eine familiäre Dreiervertrautheit herzustellen, die es nicht geben kann.

Die 'Widerfahrnisse' am Ende des Buches überraschten mich dann doch und ein einzelner kleiner Satz wirft ein neues Licht auf das Verhalten von Leonie Palm. Ein großartiges Buch mit offenem Ende – anderes hätte hier auch nicht gepasst – das noch eine Zeitlang im Leser nachwirkt.