Rezension

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Spannend, aber ...

Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert - Joël Dicker

Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
von Joël Dicker

Bewertet mit 4 Sternen

Eine „Sensation“ wird das Buch allenthalben genannt: Ein unbekannter Autor, ein Verlag mit derzeit 5 Mitarbeitern (laut Wikipedia), aber zweimal preisgekrönt und übersetzt in 30 Sprachen.
Eine Sensation auch in Sachen Spannung, die sich über mehrere Ebenen erstreckt: Wer tötete Nola? Gelingt es Marcus, Harry Queberts Unschuld zu beweisen? Schafft Marcus es, sein zweites Buch zu schreiben, für das er einen Vertrag unterschrieben und Vorschuss kassiert hat?
Der Autor schafft es hervorragend, dem Leser Marcus’ Verzweiflung wegen seiner Schreibblockade nahezubringen. Jeder, der schon einmal eine Terminarbeit abgeben musste und kurz vor dem Stichtag noch keinen Plan hat, findet sich hier wieder.

Ein Mann verliebt sich in eine 15jährige, die die einzige Liebe seines Lebens bleibt; ein Schriftsteller ermittelt in einem alten Kriminalfall zusammen mit einem Polizisten, der ein kollegiales Verhältnis zu ihm aufbaut; ein Schriftsteller schreibt eine Geschichte, während er sie erlebt in der Hoffnung, das Ende zu kennen, wenn sein Roman sich dem Ende zuneigt – auch wenn man die Ungereimtheiten übersieht und als erlaubte Fiktion betrachtet, wird das Buch seinem Ruf als Sensation hinsichtlich literarischer Ansprüche, die man durch die Preise erwarten darf, nicht gerecht. 
Die Figuren entsprechen fast alle einem stereotypen „Kleinstädter“, ganz gleich, welches Geschlecht, welcher Beruf. Klatschsüchtig, feige, egozentrisch. Vermutlich durch diese schwammigen Charakterzeichnungen erscheinen die Dialoge hölzern und steif. 
Zumindest fragwürdig ist die Anleihe bei Hitchcocks „Psycho“, durch den schon vor 50 Jahren dubiose Auffassungen über die Krankheit Schizophrenie unter die Leute kamen.

Die hilfreichen Tipps, mit denen Harry Marcus das Dasein als Schriftsteller erklärt und ihm durch seine Schreibhemmung helfen will, lesen sich passagenweise wie Plattitüden: „Lernen Sie, Ihre Niederlagen zu lieben, denn an ihnen werden Sie wachsen. Es werden Ihre Niederlagen sein, die Ihre Siege so köstlich machen.“ (S. 449) „…Dabei sind die Großartigsten und Bewundernswertesten in Wirklichkeit diejenigen, die auf die Liebe bauen. Ein größeres und schwierigeres Unterfangen gibt es nämlich nicht.“ (S. 307) „Der Sieg steckt in Ihnen, Marcus. Sie müssen ihn nur herauslassen wollen.“ (S. 261)

Ein atemberaubender Spannungsroman, der den hohen Erwartungen aufgrund seiner Literaturpreise nicht gerecht wird.