Rezension

Spannend, berührend, bitterböse, nur leider schlechte Übersetzung

TEXT - Dmitry Glukhovsky

TEXT
von Dmitry Glukhovsky

Bewertet mit 4 Sternen

Ilja, 27 Jahre alt, wurde nach 7 Jahren Straflager entlassen. Er wurde unschuldig verurteilt, weil ein Polizist ihm Drogen untergeschoben hat. Eigentlich war er glücklich. Er wuchs gut behütet bei seiner Mutter, einer Lehrerin auf. Er begann sein Wunschstudium im geliebten Moskau, hatte eine Freundin, Freunde und genoss das Leben.

Nach der Entlassung aus dem Straflager in Solikamsk ist alles anders. Der erste Tag in Freiheit schockt ihn sehr. Er erfährt, dass seine Mutter plötzlich verstorben ist, sein ehemals bester Kumpel verhält sich fremd und ablehnend, seine ehemalige Freundin hat ihn schon lange verlassen und will auch nichts mehr mit ihm zu tun haben und ihm wird gewahr, dass die Welt sich unwiderruflich ohne ihn weiter gedreht hat.

Verzweifelt betrinkt er sich und sucht Petja Chasin auf, den damaligen Polizisten. Im Affekt ersticht Ilja ihn, wirft ihn in den Gully und nimmt seine Waffe sowie dessen Handy an sich.

In diesem Handy befindet sich Petjas gesamtes privates und berufliches Leben: Videos, Fotos, Messengerverläufe. Ilja möchte nur ein wenig Zeit schinden, er braucht dringend Geld, um seine geliebte Mutter anständig zu begraben, und danach...

Der Roman ist aus Iljas Perspektive geschrieben. Man hat teil an seinen Gedanken und Gefühlen, die sehr nachvollziehbar und authentisch geschildert sind. Seine Dilemmata wurden mir nahe gebracht. Er war mir sympathisch, da er letztendlich sehr human agierte und sich stets Gedanken machte, wie er sich am besten verhaten könne. Sehr berührend empfand ich das Verhältnis zu seiner Mutter.

Petja, aus einer Generalsfamilie stammend, lernt man ebenfalls etwas näher kennen. Seine Familienstrukturen wurden sehr eindrücklich und interessant gezeichnet. Hier warteten einige Überraschungen. Seine Beziehung zu seiner belarussischen Freundin Nina hat mich allerdings nicht immer so ganz überzeugt, dafür blieb mir Nina zu blass gezeichnet.

Neben diesen persönlichen und familiären Ebenen lernt man das moderne Moskau und Russland mitsamt Lebensgefühl kennen, wenn gleich eher aus einer düsteren Perspektive. Sehr kritisch werden die Polizei und Behördenstrukturen dargestellt, sie erscheinen korrupt, kriminell und vor allem unfair und unmenschlich. Zudem erfährt man einige interessante Details, so wusste ich bislang noch nicht, dass Strafgefangene kein Wahlrecht besitzen.

Anfangs hatte ich große Probleme mit dem Schreibstil und vor allem mit der Übersetzung. Doch bald gewöhnte ich mich an die Sprache und überlas die Übersetzungskatastrophen. Zudem nahm der Roman plötzlich so rasante Fahrt auf, überraschte mit unvorhergesehenden Wendungen, fesselte und packte mich so sehr, dass ich ihn gar nicht mehr aus der Hand legen konnte.

Doch noch ein Wort zur Übersetzung: Sie ist eine Katastrophe. Ich verstehe nicht, wie so etwas überhaupt veröffentlicht werden kann. Anfangs hätte ich deswegen beinahe abgebrochen, weil ich mich so geärgert habe und immer wieder über den Schreibstil gestolpert bin. Glukhovski benutzt oft, wenn die Leute reden, Mat, und so reden die Leute nunmal, und das muss so übersetzt werden, dass der deutsche Leser dies auch versteht. Auch Redewendungen, die es im Russischen zuhauf gibt, müssen so übersetzt werden, dass der Leser dies einordnen kann. "kriech in die Innentasche" versteht man als Deutscher nicht. Auch sagt man hier, z.B. statt "Fotz ab" "Verpiss dich". Dies nur als kleine Beispiele, sie durchziehen jedoch den ganzen Text. Und auch der Titel passt im Deutschen nicht, weil das Wort hier anders konnotiert ist.

Schade, schade, schade! Der Roman an sich ist nämlich wirklich lesenswert. Bitterböse, tragisch, berührend und satirisch, an einigen Stellen auch humorvoll geschrieben. Auch tiefgründig, die aufgeworfenen ethischen Fragen und moralischen Entscheidungskonflikte werden eindrücklich und anschaulich dargestellt.

Kurzum: Ein spannender und kluger "Schuld und Sühne" Roman aus dem heutigen Moskau.

Kommentare

wandagreen kommentierte am 01. August 2019 um 08:23

Hübsche Rezi: Schon im Klappentext steht allerdings, dass der Protagonist sein Leben mit dem des Polizisten tauscht, man wäre jetzt neugierig gewesen, wie dieser Tausch umgesetzt wurde und ob dich die Schilderung dessen, überzeugen konnte.

"...und überlas die Übersetzungskatastrophen". Wie nett und großzügig!!! (Hätte ich wohl nicht getan; das Lektorat gehört mit zum Buch).

Was ich gar nicht begreife, ist, warum ich so oft in Rezensionen lesen muss, dass man das Buch nicht mehr aus der Hand legen konnte. Wen interessiert das? Das sind persönliche Befindlichkeiten und ist überdies eine Plattitüde. So was gehört nicht in eine Rezi. Aber sonst hat sie mir gut gefallen.