Rezension

Spannende Dystopie mit Parallelen zu Panem

The Testing - Joelle Charbonneau

The Testing
von Joelle Charbonneau

Pro:
Cia, die Protagonistin, ist ein kluges, entschlossenes und mutiges Mädchen. Sie arbeitet schon seit frühster Kindheit hart an ihren Schulnoten, um später mal die Chance zu bekommen, studieren zu dürfen. Sie will mithelfen, die Welt zu verbessern! Ich konnte gar nicht anders, als sie dafür zu bewundern - umso härter ist es im Laufe des Romans, ihre Ernüchterung und Enttäuschung mitzuverfolgen. Das Entsetzen, als sie erkennen muss, dass die Regierung nicht für das steht, was sie immer geglaubt hat, und dass auch Leute, von denen sie es nie erwartet hätte, skrupellos ihre eigenen Ziele vorantreiben.

Die anderen Jugendlichen, die an der Auslese teilnehmen, erscheinen erst ganz normal: nur junge Menschen, die sich eine bessere Zukunft wünschen. Die meisten davon sind durchaus sympathisch und man drückt ihnen allen bang die Daumen. Auch die weniger sympathischen Charaktere lassen sich anfänglich nicht mehr zu schulden kommen als jemandem ein Bein zu stellen oder Ähnliches. Aber es dauert nicht lange, bis der enorme psychische Druck dazu führt, dass sich auch die Schattenseiten der menschlichen Psyche enthüllen...

Die Auslese verläuft in mehreren Runden, in denen unterschiedliche Dinge gestestet werden. Schon bald geht es nicht mehr nur um harmlose Mathekenntnisse... Mit jeder Runde schraubt sich die Spannung weiter hoch, und es viel mir immer schwerer, das Buch auch mal wegzulegen. (Fertig gelesen habe ich es um 2 Uhr morgens!)

Das Buch ist aus Cias Sicht geschrieben, wodurch man als Leser sehr nahe dran ist am Geschehen. Besonders die Actionszenen sind temporeich geschrieben, aber auch in den ruhigeren Szenen gefiel mir der klare, schörkellose Schreibstil gut. Da wir durch Cias Augen blicken, ist es oft schwer, andere Charaktere einzuschätzen, aber das sehe ich nicht unbedingt als Manko: es trägt bei zu der Atmospäre ständiger Bedrohung, die sich in den späteren Kapiteln entwickelt.

Kontra:
Ok, lasst uns direkt über den rosa Elefanten im Raum sprechen: die offensichtlichen Parallelen zwischen "Die Tribute von Panem" und "Die Auslese".

Parallele: In beiden Büchern gibt es eine zentrale, übermächtige Regierung. In "Panem" bestimmt sie über die Distrikte, in "Auslese" über die Kolonien.
Unterschied: die Menschen in den Distrikten sind im Prinzip Gefangene, die Menschen in den Kolonien haben zumindest die Möglichkeit, sich um Versetzung zu bewerben. Die Distrikte haben sich in der Vergangenheit gegen die Regierung aufgelehnt, die Kolonien (anscheinend) nicht.

Parallele: Die Regierungen in "Panem" und "Auslese" schicken Jugendliche in gefährliche und potentiell tödliche Situationen.
Unterschied: In "Panem" geschieht dies einerseits zur Belustigung der Massen, wie moderne Gladiatorenkämpfe, und andererseits dazu, die Distrikte stets an ihre Machtlosigkeit zu erinnern. In "Auslese" weiß die Öffentlichkeit gar nichts davon. Das Ziel ist nicht Unterhaltung, und das Ziel ist auch nicht unbedingt der Tod der Kandidaten - das Ziel ist es, die stärksten, intelligentesten, vielseitigsten und auch entschlossensten Jugendlichen zu finden. Ob es das jetzt besser macht, sei dahingestellt!

Parallele: In beiden Büchern gibt es Mutationen, die für die Kandidaten eine Bedrohung darstellen.
Unterschied: In "Panem" wurden diese gezielt gezüchtet, in "Auslese" entstanden sie durch Gifte und Strahlung, die in den Kriegen freigesetzt wurden.

Parallele: So wie Katniss einen Sympathisanten hinter den Kulissen der Spiele hatte, hat Cia einen Sympathisanten auf seiten der Organisatoren der Auslese.
Unterschied: Dazu kann ich noch nicht viel sagen, mal sehen, wie sich das weiter entwickelt!

Parallele: Beide Protagonistinnen werden von einem Kindheitsfreund in die Spiele / die Auslese begleitet, woraus sich tiefere Gefühle entwickeln.
Unterschied: Cia hat keinen Grund, eine romantische Beziehung vorzutäuschen.

Auf den ersten Blick könnte man meinen: Boah, das ist ja total abgekupfert! Ist es meiner Meinung nach aber... nur so halbwegs. Ich glaube noch nicht einmal, dass die Autorin absichtlich diese Parallelen eingebaut hat - wahrscheinlich ist es einfach nur schwierig, sich etwas auszudenken, was es noch nie gab. Es gibt ja inzwischen ganz schön viele Dystopien, da ist fast jedes Grundthema schonmal vorgekommen.

Hinter den Parallelen, die sich beim Lesen ab und an regelrecht aufdrängen, stehen durchaus unterschiedliche Hintergründe und Motivationen, aber ich hätte mir gewünscht, dass sich die Geschichte noch viel klarer von dem dystopischen Bestseller "Die Tribute von Panem" abhebt.

Ich hätte gerne mehr darüber erfahren, warum die Regierung überhaupt zu solch drastischen Maßnahmen greift. Ja, nach den ganzen Kriegen will man das Regieren, Forschen und Lehren nur den fähigsten überlassen, aber ginge das nicht auch anders? Besonders, da anscheinend jeder Mensch händeringend gebraucht wird? Statt jemanden umkommen zu lassen, könnte man ihn doch einfach als nicht tauglich erklären und ihn heimschicken? Aber vielleicht kommt da noch mehr in den nächsten beiden Büchern.

Die Liebesgeschichte hat mich nicht ganz überzeugt - sie kam ein bisschen plötzlich und blieb dann eher mau. Überhaupt sind für mich die Emotionen eins der Mankos an dem Buch. Der Verstand sagt beim Lesen oft: "Das ist schrecklich!", aber wirklich tief berührt hat es mich oft nicht. Wenn ich da doch mal wieder einen Vergleich mit Panem bemühe: da habe ich manchmal Rotz und Wasser geheult, was hier nie passiert ist.

Das englische Cover gefällt mir noch ganz gut, aber das deutsche leider überhaupt nicht. Zum einen sieht die abgebildete Frau, die ja sicher Cia darstellen soll, deutlich älter als sechzehn aus. Außerdem hat Cia hellbraune Haare und ist klein und zierlich, und ich finde, sie kommt hier zu aggressiv rüber.

Zusammenfassung:
Wer "Die Tribute von Panem" (oder andere Dystopien) mag, liegt mit "Die Auslese" sicher nicht ganz falsch, wenn er über die Parallelen hinwegsehen kann - obwohl ich sagen muss, dass mich "Panem" emotional viel mehr und tiefer berührt hat.