Rezension

Spannende Handlungsstränge, die nicht konsequent zu Ende geführt werden

Dear Evan Hansen - Justin Paul, Benj Pasek, Steven Levenson, Val Emmich

Dear Evan Hansen
von Justin Paul Benj Pasek Steven Levenson Val Emmich

Bewertet mit 3 Sternen

Inhalt

Der Anfang von Dear Evan Hansen ist wirklich stark. Wir lernen Marc Evan Hansen kennen, der von allen eigentlich nur Evan genannt wird. Er verbringt viel Zeit alleine in seinem Zimmer und uns wird schnell klar, dass ihn zwischenmenschliche Kommunikation überfordert, oder ihm Angst macht. Das beginnt beispielsweise bei einer harmlosen Bestellung beim Lieferservice und endet beim Smalltalk in der Schule mit Mitschüler*innen, die er im Grunde schon sein ganzes Leben lang kennt.

Seine Mutter ist alleinerziehend und muss viel arbeiten. Sie hat daher eine Therapie für Evan organisiert. Dort soll er Briefe an sich selbst schreiben. Eines Tages lässt er seinen Gefühlen endlich freien Lauf. Doch dann gerät dieser Brief in die Hände eines Jungen, der Suizid begeht. Und alle glauben, es handelt sich um seinen Abschiedsbrief. Anstatt das Missverständnis aufzukären, gerät Evan in einen Strudel aus Lügen und Halbwahrheiten. 

 

Was mir in der Handlung wirklich fehlte, war der rote Faden der Geschichte. Durch die unglücklichen Verkettungen, die das Missverständnis um den Brief mit sich bringen, kommen zwar viele Themen in Gang, werden aber nicht ausreichend behandelt, sondern meist durch ein neues Thema abgelöst. Mir fehlten hier aber die zentralen Themen: Die Themen auf die man immer wieder zurückkommt und die auch in der Geschichte aufgelöst und nicht einfach fallen gelassen werden. Da Evan immer neue Notlügen erfinden muss, wurden auch plötzlich Dinge thematisiert, die ich zu Beginn der Geschichte überhaupt nicht als Problem empfunden habe.

Evan verbringt viel Zeit alleine, was ihm am Anfang der Geschichte scheinbar auch nicht viel ausmacht. Doch eines Tages gerät er genau deswegen mit seiner Mutter aneinander. Mir fehlte hier - und auch in anderen Situationen - ein klarer Übergang, in dem deutlich wird, dass sich die Situation zuspitzt oder doch nicht so war, wie man am Anfang hätte vermuten können.

 

Dear Evan Hansen bringt zwei Perspektiven mit: Den Großteil der Geschichte erleben wir aus Evans Sicht. Wir lernen seine Gefühle und Gedanken kennen und können deutlich spüren, wie ihn die Kommunikation mit anderen Menschen verunsichert. Seine Handlungen werden in der Geschichte gut begründet und waren für mich größtenteils auch nachvollziehbar. Mich verwirrte nur diese Vielfalt an Themen.

 

In der zweiten Perspektive lernen wir Connor kennen: Wir erfahren seine Geschichte und finden heraus, warum er Suizid begangen hat. Diese Perspektive war mir allerdings zu ungenau herausgearbeitet. Einerseits war es gut, dass wir durch Connor erfahren konnten, wie sein Leben wirklich verlief. Andererseits erkannte ich nicht, wie diese Perspektive die Geschichte voran gebracht hat. Es war zwar spannend, etwas über Connors Leben zu erfahren, aber für mich hing dieser Handlungsstrang etwas lose herum.

 

Was die zentralen Themen des Romans betreffen, gibt es einige Möglichkeiten: Eine davon könnte beispielsweise die Einsamkeit sein. Durch Evans (Not)Lüge bekommt er viel positive Aufmerksamkeit, was ihn nicht sonderlich zu stören scheint. Wir können also vermuten, dass Evan die Rolle des Einzelgängers nicht wirklich gefallen hat. Connor war ebenfalls einsam. Er war von Menschen umgeben, die ihn, bis auf eine Person, aber nicht wirklich verstehen konnten. Obwohl Evan und Connor nichts miteinander zu tun hatten, ist die Einsamkeit etwas, das beide miteinander verbindet. Allerdings kann aufgrund der Handlung der Geschichte diese Parallele nur schwer herausgearbeitet werden.

Was mich etwas irritierte war, dass Connors Suizid überhaupt nicht in der Geschichte thematisiert wurde. Natürlich bleibt seine Familie ratlos zurück. Aber im Mittelpunkt der Geschichte steht die angebliche Freundschaft zwischen Evan und Connor. Allerdings gibt es auch hier nur wenig Möglichkeiten den Suizid zu thematisieren, weil die Handlung der Geschichte auf andere Themen ausgelegt ist.

 

Was mich an Dear Evan Hansen aber beeindruckte war eindeutig die Hörbuchgestaltung. Erst einmal war ich froh, dass die Geschichte ungekürzt produziert wurde. Da die Geschichte im Original ja ein Musical ist, war ich gespannt, ob man das in der Hörbuchgestaltung bemerkte. Es handelt sich hier aber um eine klassische Lesung, was mir sehr gut gefallen hat.

Da wir zwei Perspektiven haben, lernen wir hier auch zwei Hörbuchsprecher kennen.

Julian Greis schlüpft in die Rolle von Evan und liest den Großteil der Geschichte. Aufgrund seiner hellen Stimmfarbe klingt er unglaublich jung und ich habe ihm die Rolle des Teenagers wirklich abgenommen. Inzwischen habe ich schon ein paar Titel gehört, die von dem Hörbuchsprecher gelesen wurden und ich muss sagen, dass mich seine Interpretation von Evan wirklich beeindruckt hat, weil Evans Unsicherheit und Orientierungslosigkeit für mich wirklich greifbar wurden. Obwohl ich die Handlung teilweise nicht nachvollziehen konnte, hat es Julian Greis geschafft, mir Evan als Charakter näher zu bringen.

Pascal Houdus schlüpft in die Rolle von Connor. Er klingt ebenfalls jung. Man hört ihm die Zerbrechlichkeit und die Einsamkeit, die ihn umgeben, deutlich an.

Mir hat die Kombination aus den beiden Sprechern auch sehr gut gefallen, weil sie stimmlich gut miteinander harmonieren. Julian Greis hat eine hellere Stimmfarbe, während Pascal Houdus etwas tiefer, aber dennoch jung genug klingt, um in die Rolle eines Jugendlichen schlüpfen zu können.

 

Der Schreibstil von Dear Evan Hansen hat mir sehr gut gefallen. Beide Handlungsstränge werden aus der Ich-Perspektive erzählt und haben somit dafür gesorgt, dass ich der Geschichte gut folgen konnte, bzw. Evans Reaktionen auf bestimmte Situationen nachvollziehen konnte.  Was ich besonders mochte, waren die Dialoge zwischen Evan und den anderen Charakteren, oder die Briefe, die Evan an sich selbst geschrieben hat.

Was ich diesmal spannend finde ist, dass mir der Schreibstil der Geschichte wirklich gut gefallen hat, obwohl ich mit der Handlung nicht immer mitgehen konnte. Wenn mir eine Geschichte nicht gut gefällt, habe ich häufig die Erfahrung gemacht, dass sich das auch auf den Schreibstil auswirkt. 

 

Gesamteindruck

Dear Evan Hansen ist eine Geschichte, die interessante Themen und Fragen anspricht. Allerdings wurde sich aus meiner Sicht zu wenig mit den Themen auseinandergesetzt. Dennoch lernen wir hier zwei spannende Charaktere kennen und haben eine unglaublich gute Hörbuchproduktion. Diese zwei Gründe sorgen dafür, dass ich das Hörbuch generell weiterempfehlen kann.