Rezension

Spannende und lebendige Neuinterpretation mit liebevollem Blick auf die Figuren

Tell
von Joachim B. Schmidt

Bewertet mit 4.5 Sternen

Nachdem mich Joachim B. Schmidt in seinem Vorgänger „Kallmann“ bereits vorallem mit der Inszenierung seiner Charaktere und rauen, aber atmosphärischen Landschaftsbeschreibungen begeistern konnte, war ich gespannt, was noch so aus seiner Feder tropfen würde.

Thematisch begibt er sich in ganz andere Gefilde. Aufgrund des Vorgängers hatte ich ihn als talentierten Krimiautoren abgespeichert, aber mit „Tell“ beweist er, dass das viel zu kurz gedacht ist, denn es scheint, dass nicht der Kriminalfall an sich sein Steckenpferd ist, sondern die Figuren, die, aus welchen Gründen auch immer, darin verwickelt sind. Statt in Island sind wir jetzt in der Schweiz. Nicht in der Gegenwart, sondern grob im Mittelalter. Also sollte man die beiden Werke nicht miteinander vergleichen? Ich denke schon. Denn die anfangs beschriebene Charakterzeichnung ist brillant und das Motiv ähnlich. Denn es geht um Recht. Und auch hier überlässt es der Autor dem Leser, in den Graustufen dazwischen zu wandeln. Er heroisiert nicht, wertet aber auch nicht ab.

Die Saga um Wilhelm Tell war mir ein Begriff, aber alles was ich darunter abgespeichert hatte waren die Stichworte Schiller, Pfeil und Bogen und Apfel, der von irgendjemandes Kopf geschossen wird. Nun habe ich, auch nachdem ich das Buch schon zwei Wochen ausgelesen habe, immernoch ein sehr plastisches Bild zu dieser Saga im Kopf. Ein Vater, der sich schikaniert und gedemütigt und seine Familie in Gefahr sieht, kämpft um so etwas wie Gerechtigkeit. Definitiv Stoff für eine (Helden-) Saga, obwohl ich noch einmal betonen möchte, dass ich Tell nicht als Held inszeniert sehe.

Was hier sicherlich zu sehr viel Spannung beiträgt, ist die Kürze der Kapitel. Was allerdings heutzutage in Thrillern zu einem beliebten Stilmittel verkommen ist, nutzt der Autor aber meiner Meinung nach nicht inflationär und nicht um des baren Schockes willen und um die Leser an sein Werk zu fesseln. Liest man sich die Anpreisungen für das Buch durch, so könnte man durchaus den Eindruck bekommen, es handele sich um einen Actionthriller, der sich von Cliffhanger zu Cliffhanger hangelt. So habe ich das Buch absolut nicht empfunden. Es ist sicherlich kurzweilig und eine Spannung zieht sich durch die Seiten, die sich zum Ende hin verdichtet. Aber der Autor verliert nie seine Figuren aus den Augen und baut Szenen ein, die reine Schockelemente darstellen oder das Tempo anziehen. Hätte er noch mehr mit seinen Charakteren gespielt und die Familie Tell noch tiefer beleuchtet, wäre ich dankbar gewesen. Was sicherlich für die Fähigkeit von Herrn Schmidt spricht, seinen Protagonisten Leben einzuhauchen. Und sie mit Eigenheiten, Witz und Charme zu versehen.

Insgesamt habe ich auch dieses Buch des Autoren unglaublich gerne gelesen. Und dass sowohl die Figuren, als auch die Szenerie mir weiterhin lebhaft im Gedächtnis sind, spricht denke ich dafür, dass der Autor mal wieder ein substanziell gutes Buch geschrieben hat.