Rezension

Spannendes Portrait eines Frauenmörders

Der freundliche Mr. Crippen - John Boyne

Der freundliche Mr. Crippen
von John Boyne

Während sich das Passagierschiff "Montrose" auf der Fahrt von Antwerpen nach Kanada befindet, sucht in London Scotland Yard fieberhaft nach einem Mordverdächtigen, nämlich nach Dr. Harry Harvey Crippen. Er soll seine Frau auf brutale Art und Weise umgebracht, zerstückelt und im Keller vergraben haben.... Doch was steckt wirklich hinter diesem Verbrechen? Und was haben die Passagiere der "Montrose" damit zu tun?

Auf raffinierte Weise beleuchtet der Autor den Kriminalfall aus mehreren Perspektiven, so dass sich nach und nach ein kaleidoskopartiges Bild heraus arbeitet. Ich fand es ganz schön anspruchsvoll, die einzelnen Zeitebenen richtig zuzuordnen; schließlich beginnnt die Geschichte mit dem Ablegen der "Montrose" von Antwerpen nach Kanada, schließt aber auch den kompletten Lebensweg des Harry Harvey Crippen mit ein und springt immer wieder um einige Monate zurück, um die Entstehung des Verbrechens zu skizzieren. Da ist aufmerksames Lesen gefragt, um den Überblick nicht zu verlieren.

Am besten gefiel mir die Schilderung der Atlantiküberquerung. Durch eine bunt zusammen gewürfelte Reisegesellschaft und einen neuen ersten Offizier ist für reichlich Abwechslung gesorgt, wenn auch der Fall wenig damit zu tun hat. Aber durch witzige Verwicklungen und eine Prise Titanic-Stimmung fühlte ich mich damit bestens unterhalten. 

Eher mühsam fand ich die eingestreuten Rückblenden über Dr. Crippens Leben. Es ist über die ganzen Jahre hinweg deprimierend und bestürzend, und damit soll wohl das Verständnis für den Verdächtigen geweckt werden. Nach und nach erreicht dieser Erzählstrang dann die Gegenwart und den markanten Punkt von Cora Crippens Verschwinden, womit der Beginn des eigentlichen Kriminalfalls zeitlich zu verorten ist. Ab diesem Moment kommt durch eine aufmerksame Freundin auch noch Scotland Yard mit ins Spiel und bietet einen weiteren Blickwinkel auf den Fall.

Sehr gut gefiel mir die Darstellung des Zeitgeistes des anfänglichen 20. Jahrhundert mit seinen gesellschaftlichen Zwängen und den strengen Einteilungen der Klassen, worauf besonders die versnobte Upper-Class viel Wert legte. Dies wird in kleinen Begebenheiten und wortwitzigen Auseinandersetzungen geschildert und ich hatte durchaus meinen Spaß damit, wohl wissend, dass es für die Menschen damals gar nicht so spassig war, einer unteren Schicht anzugehören. Auch Dr. Crippen kämpft letztendlich sein Leben lang dagegen an, dass ihm bestimmte Ziele versagt bleiben.

Durch diesen Mix entsteht ein historischer Kriminalroman, der an vielen Stellen einfach nur so dahin plätschert und eine kontinuierlichen Spannungsbogen vermissen lässt. Aufregend wird es vor allem am Ende, und obwohl der Fall tatsächlich passiert ist und kundige LeserInnen durchaus um den Ausgang wissen, konnte mich der Autor mit einer raffinierten und glaubwürdigen Auflösung überraschen. Seine Version der Geschehnisse ist allerdings unter dem Gesichtspunkt der künstlerischen Freiheit zu sehen, denn wie die Sache tatsächlich ausgegangen ist, darüber gibt es auch über 100 Jahre später noch unterschiedliche Ansichten.

Für klassische KrimileserInnen ist das sicher zu wenig, aber wer sich gerne auf eine ruhig erzählte und langsam sich entwickelnde Geschichte einlässt, die durchaus ihre kriminalistischen Höhepunkte hat, der wird nicht enttäuscht werden.