Rezension

Sprache, Sprachlosigkeit und alles dazwischen.

Ich kann dich hören - Katharina Mevissen

Ich kann dich hören
von Katharina Mevissen

Bewertet mit 2.5 Sternen

Handlung: 
Osman studiert Cello. Die Liebe zur Musik und das Talent dafür hat er von seinem türkischen Vater Suat geerbt, mit dem ihn jedoch eine eher schwierige Beziehung verbindet. Gerade läuft es generell nicht so gut: Osman tut sich schwer mit einem Stück, das er bald im Rahmen einer wichtigen Prüfung spielen soll, er hadert mit seinen erblühenden Gefühlen für seine Mitbewohnerin, und dann bricht sich sein Vater auch noch das Handgelenk, was für den Profigeiger natürlich eine Katastrophe ist. Osmans Tante Elide, die ihn quasi großgezogen hat, nachdem seine deutsche Mutter Mann und Kinder urplötzlich im Stich ließ, fleht ihn um Unterstützung an, was ihn haltlos überfordert.
Dann findet er ein Diktiergerät und flüchtet sich in den Klang und die Stille dieses fremden Lebens: dem Leben von Ella und ihrer gehörlosen Schwester Jo.

Meine Meinung: 
Das Erste, was mir einfällt, wenn ich über diesen Roman nachdenke, ist die Vielfältigkeit der Sprache.
Das Offensichtliche, Naheliegende: auf dem Fußballfeld wird anders gesprochen und gedacht als im Konzertsaal, und die Gedanken verschiedener Generationen und verschiedener Nationalitäten haben einen prägnant unterschiedlichen Klang, Takt und Rhythmus. So weit ist das wenig überraschend, verleiht vielen Szenen jedoch Atmosphäre und verwurzelt sie im Kontext.
So wird die Sprache älterer Migranten, die das Deutsche eigentlich fast perfekt beherrschen, manchmal fast bis zur Sprachlosigkeit reduziert.
Ich stutzte, ich ließ nachwirken, ich dachte nach. Ein wirkungsvolles Stilmittel, um zu verdeutlichen, wie wenig sich der ein oder andere Charakter auch nach einem halben Leben in der Fremde beheimatet fühlt – wie sehr Sprache und Heimat untrennbar miteinander verwoben und verwachsen sind.
Interessanterweise fällt Tante Elide genau dann zurück in ihre „Mutterzunge“, als ihr deutlich wird, wie sehr ihr dieses Leben aufgezwungen wurde. Sie, die bis dahin in der Geschichte immer nur diejenige war, die einfach da ist, die alles auffängt, die immer hintenansteht hinter den Bedürfnissen anderer Menschen, stößt das Deutsche ab, jäh und unbewusst – und emanzipiert sich damit kurioser Weise ein Stück weit.
Dennoch: in den Dialogen wird die Sprache manchmal etwas gestelzt oder auch übertrieben flapsig, gerät aus dem Fluss.
Interessant ist jedoch insbesondere, wie die Sprache sich wandelt, sobald in irgendeiner Form der Hörsinn angesprochen wird. Da gurgelt es, gluckert und zischt, knallt und schleift, da wird jeder Klang und jedes Geräusch ausgekostet und gefeiert. Dann gewinnen die Gedanken des 24-jährigen Musikstudenten Osman, dessen Perspektive wir die meiste Zeit folgen, eine eindringliche, manchmal geradezu zornige Poesie. Ihm selber ist dies sicher nicht bewusst – seine Welt ist Klang und Schwingung, Tempo und Pegel, dies geschieht so automatisch wie das Atmen.
Er drückt viel aus über diese Klangwelt. So zerschmettert er Altglas mit großem Getöse, statt über seine Gefühle zu sprechen. Die Musik ist ihm Fluch und Segen zugleich, und das spürt man in jedem einzelnen Wort.
Osman liebt die Musik nicht nur , er hasst sie im gleichen Atemzug. Im Verlauf des Buches füllten sich meine Notizen mit unschönen Vergleichen: Er leidet an ihr wie an einer chronischen Krankheit. Hadert mit ihr wie mit einer toxischen Beziehung. Verzehrt sich nach ihr wie nach dem nächsten Schuss Heroin. Manchmal kotzt er sie geradezu heraus, die Musik, die ihn innerlich zerfrisst.
Dies sind die Passagen, in denen das Buch seinen Bann über mich sprach, in denen es mich an die Zeilen fesselte. Die Autorin bringt ihre Worte so deutlich zum Klingen, dass man sich manchmal geradezu so vorkommt, als hörte man das Hörbuch.
Osman ist eine gute Wahl als zentrale Figur des Buches.
Er ist nicht nur (meist) sympathisch und erlaubt es dem Leser, sich ein Stück weit mit ihm zu identifizieren, sondern ist auch in seinen persönlichen Konflikten spannend. Da steht nicht nur seine Hassliebe zur Musik, sondern auch das schwierige Verhältnis zu seinem türkischen Vater, das Verlassenwordensein durch seine deutsche Mutter, die Art und Weise, wie er die Liebe seiner Tante gedankenlos als gegeben und selbstverständlich annimmt, seine zögerlichen Gefühle für seine Mitbewohnerin und nicht zuletzt die Faszination für diese Frau, die er nie getroffen hat: Ella.
Aber er hat sie gehört, er kennt den Klang ihrer Stimme, ihres Atems und ihres Schweigens.
Seit er ihr Diktiergerät gefunden hat, hört er es wie besessen immer wieder ab. Hört zu, wie sie über ihre gehörlose Schwester Jo spricht und deren anstehende Entscheidung, ob sie sich ein Cochlea-Implantat einsetzen lassen will oder nicht – was Jo, die nie gehört hat, das Hören ermöglichen könnte. Die Aufnahme enthält viele Passagen des Schweigens, in denen Osman lernen muss, genauer hinzuhören auf das Geräusch der gebärdenden Hände, besser umzugehen mit der Stille.
Dies wird zu seinem Rettungsanker, ein Stück weit zu seinem Lebensinhalt.
Allerdings fängt es hier schon an mit den Aspekten, die mich nicht vollends überzeugen konnten.
Im Grunde fand ich diese Konstellation hochinteressant. Hier prallen zwei Lebenswirklichkeiten aufeinander, wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten. Osman, für den Musik und Leben untrennbar verwoben sind, und Ella und Jo, in deren Leben die Stille eine zentrale Rolle einnimmt.
Aber Jo wird in diesem Roman so sehr an den Rand gedrängt, dass sie kaum noch existiert. Sie, die wie viele Gehörlose die Gebärdensprache als ihre Muttersprache betrachtet, wird nahezu sprachlos gemacht. Hier könnte so viel zu Wort kommen, hier könnte der Leser einiges erfahren über die komplexe Gehörlosenkultur – warum zum Bespiel so viele Gehörlose gar nicht hören wollen, warum sie das Cochlea-Implantat ablehnen.
Das ist eine ganz eigene Welt, die hier jedoch nur als Aufhänger benutzt wird.
In meinen Augen die größte Schwäche des Buches: Zu viele Themen, zu viele Erzählebenen, das hätte 500 Seiten füllen können (müssen?) statt 168. So werden manche Konflikte nur grob angerissen, wie zum Beispiel die Homosexualität von Osmans Bruder, die zum Bruch mit dem türkischen Vater führt. Manchen Themen hätte mehr Tiefgang gut gestanden – so zieht vieles am Leser so schnell vorbei, dass gar keine Zeit ist für den nötigen Wiederhall.
Das passt nicht so recht zum Grundkonflikt von Osman: der muss im Verlauf des Buches erst lernen, sorgfältig und bedacht zuzuhören und auch Leerstellen zuzulassen.
Fazit:
Osman hat drei Probleme: Er studiert Cello und verzweifelt fast an dem Stück, das er in der nächsten Prüfung spielen soll. Dann bricht sich sein Vater Suat, seines Zeichens Profigeiger, das Handgelenk. Und auf einmal fordert Osmans Tante Elide seine Unterstützung, die er gerade nicht geben kann oder will.
Zu seinem Rettungsanker wird das Diktiergerät, das er findet – er hört sich die Stücke eines fremden Lebens immer wieder an: Ella spricht über sich, spricht über ihre gehörlose Schwester Jo, und Osman lernt, die Stille zuzulassen.
Die Sprache hat grandiose Elemente, gerade wenn Osman seine reiche Klangwelt zum Ausdruck bringt. Die Autorin spricht eine Vielzahl interessanter Themen an, und paradoxer Weise liegt genau darin mein Hauptproblem mit diesem Buch: für nur 168 Seiten sind es zu viele Themen, die dadurch nicht genug Raum bekommen, um mehr zu sein als Aufhänger – als Mittel zu dem Zweck, Osmans Geschichte voran zu treiben.

Diese Rezension erschien zunächst auf meinem Buchblog:
https://wordpress.mikkaliest.de/rezension-katharina-mevissen-ich-kann-di...