Rezension

Spurensuche an der türkisch-syrischen Grenze

Unruhe - Zülfü Livaneli

Unruhe
von Zülfü Livaneli

Bewertet mit 4 Sternen

Der Journalist Ibrahim kehrt nach vielen Jahren in Istanbul in seinen Heimatort Mardin an der Grenze zu Syrien zurück. Sein Kindheitsfreund Hüseyin ist in den USA erstochen worden und Ibrahim begibt sich auf Spurensuche, befragt Angehörige und Zeitzeugen. Vor seiner Redaktion lässt sich der lange Aufenthalt damit rechtfertigen, dass gerade Angelina Jolie ein Flüchtlingslager in der Region besucht. Der stets gutherzige Hüseyin hatte sich als Helfer in einem Flüchtlingslager in die Jesidin Meleknaz verliebt und dafür seine Verlobte verlassen. Eine Heirat wird jedoch von der muslimischen und der jesidischen Religion verboten. Nach heftigen Konflikten mit Eltern und Geschwistern wegen seiner konfliktträchtigen Wahl flüchtet Hüseyin zu seinen Brüdern in die USA, nachdem in Mardin auf ihn geschossen worden ist. Kurz nach seiner Ankunft wird er dort von religiösen Extremisten getötet.

Ibrahim erkennt, dass er sich seiner Heimatstadt entfremdet hat, aber auch, wie stark sich der Islam in seiner Abwesenheit gegenüber dem gelassenen Stil verändert hat, den seine Mutter heute noch lebt. Natürlich muss er als Journalist sich auch mit Gewalt und Menschenhandel im Namen seiner Religion auseinandersetzen und warum Menschen ihren religiösen Führern kritiklos folgen. Zentrale Punkte in Ibrahims Auseinandersetzung mit Hüseyins Tod sind jedoch das Einzelschicksal und Erklärungsversuche in Gleichnissen. Onkel Fuat, der Vater von Ibrahims Freund Mehmed, erklärt ihm das Problem der „Harese“, einer Gier, die Menschen und auch Tiere dazu führt, sich selbst zugrundezurichten. Ein Kamel würde Disteln fressen, bis es blutet und müsse bis zum Verbluten immer weiter fressen. Genauso würde der Nahe Osten sich selbst töten. Ibrahim bezieht sich im Text auf einen bildlichen Vergleich in Livanelis Roman Glückseligkeit. Dort vergleicht der Autor türkische Intellektuelle mit Trapezartisten, die ihren eigenen (heimatlichen) Trapezgriff bereits losgelassen hätten, den neuen (westlichen) jedoch noch nicht ergriffen.

Wer sich von der Erklärung aktueller weltpolitischer Konflikte in Gleichnissen angesprochen fühlt, wird Ibrahims Spurensuche gern folgen. Zugleich ist „Unruhe“ eine willkommene Gelegenheit für eine Wiederbegegnung mit „Glückseligkeit“ unter veränderten äußeren Bedingungen.