Rezension

Spurensuche im Norwegen der 40er

Der Sturm - Steve Sem-Sandberg

Der Sturm
von Steve Sem-Sandberg

Bewertet mit 5 Sternen

Andreas hat als Kind bei Johannes im gelben Haus gelebt. Als Erwachsener kommt er auf die Insel zurück und bemerkt, dass die Welt der Kindheit mit dem eigenen Erwachsenwerden kleiner zu werden scheint. Früher kontrollierte der Gutsbesitzer Kaufmann, wer seine Insel betrat, heute dürfte es schwieriger sein, Kaufmanns ehemaliges Imperium zu kontrollieren. Johannes existierte in seinen letzten Lebensjahren körperlich geschwächt, blind, verwahrlost und misstrauisch gegen andere im gelben Haus. In den 40er Jahren hatte er Andreas und seine Schwester Minna aufgenommen, nachdem die Eltern auf dem Weg auf die Insel Opfer eines Flugzeugabsturzes wurden.  Dass ein alleinstehender Mann zwei fremde Kinder adoptierte, muss schon damals als skandalös empfunden worden  sein. Was Andreas über die Insel weiß, stammte lange allein von Johannes, einige Geschichten erzählte auch Minna. Der Icherzähler scheint sich in seinen Erinnerungen anfangs von Loch zu Loch zu hangeln. Ich fragte mich, wer in der Geschichte mit wem verbunden ist und worum es überhaupt geht.

Die Kaufmanns hatten offenbar einen großen Gutshof und die Insel muss zum großen Teil ihr privater Besitz gewesen sein. Johannes war zur Zeit der deutschen Besetzung Fahrer des alten Kaufmann, der wiederum Beziehungen zum faschistischen Ministerpräsidenten Quisling pflegte. Andreas ist auf den Spuren seiner Eltern in die USA gereist, hat über die 40er in Norwegen recherchiert und setzt nun Erinnerungen und die Fakten aus den Akten des Kaufmann-Hofes zu einem Bild zusammen. Sein Adoptiv-Vater muss jede Quittung und jeden Brief säuberlich abgelegt haben und Johannes gräbt sich darin durch Streitigkeiten um Grenzen und Bootsanleger. Alte Geschichten aus der Zeit des Nationalsozialismus  verbinden sich mit Interessen an wertvollen Insel-Grundstücken. Jede Antwort scheint sofort eine neue Frage aufzuwerfen. Warum organisierte Kaufmann während der Besetzung eine Kinderkolonie auf einer Nachbarinsel und welche Rolle spielte dabei Andreas Vater als Amerikaner mit norwegischen Wurzeln? Warum wurde die temperamentvolle Minna damals zu Pflegeeltern gegeben? Je weiter Andreas vordringt, umso stärker bezweifelt er, was man ihm und Minna als Kindern erzählte und umso deutlicher wird, dass Minna ihn belogen und manipuliert hat. Die Grenzen seiner Vorstellungskraft begrenzen, was ich als Leser von ihm erfahren werde. Beim Lesen wurde ich den Eindruck nicht los, dass die Lücken in Johannes Erinnerungen fließend in  Vermutungen übergehen und er sich auf seiner Spurensuche in der eigenen Geschichte verliert.

Steve Sem-Sandbergs Icherzähler fühlt sich zweifach verlassen, von seinen verschwundenen Eltern und von seiner älteren Schwester. Seine Spurensuche führt ihn am Beispiel einer kleinen Insel  tief in Norwegens Geschichte während des Nationalsozialismus. Was prägt einen Mann wie Johannes, was macht ein Bruder-Schwester-Verhältnis aus, all das erzählt der schwedische  Autor so intensiv, dass beim Lesen höchste Aufmerksamkeit erforderlich ist.