Rezension

Staaten können Krisenbewältigung lernen - von anderen Staaten und von Individuen

Krise - Jared Diamond

Krise
von Jared Diamond

Bewertet mit 4.5 Sternen

Sachbücher, die ungelesen die Regale füllen, gibt es genug, sagte sich Jared Diamond und beschloss ein Buch zu verfassen, das verständlich geschrieben und damit mehr Lesern zugänglich ist. Ob und wie Staaten voneinander und von Einzelpersonen lernen können, an Krisen zu wachsen und sie als Chance zum Neubeginn zu nutzen, geht Diamond am Beispiel von 7 Ländern und 12 Kernfaktoren nach. Er analysiert markante Wendepunkte in Ländern, in denen er gelebt hat und deren Sprachen er spricht - mit der Ausnahme von Japanisch. Eine Brandkatastrophe mit 500 Toten in Boston in Diamonds früher Kindheit könnte beim erwachsenen Wissenschaftler die Aufmerksamkeit dafür geschärft haben, wie Überlebende persönliche Katastrophen verarbeiten und wie Gemeinschaften aus eigenen und fremden Fehlern lernen können. Vorgestellt werden politische Krisen in Finnland, Japan, Indonesien, Chile, Nachkriegsdeutschland, Australien, den USA. Abschließend richtet D. den Blick auf aktuelle Probleme weltweit. Der Begriff Krise umfasst hier Kriege, Revolutionen, historische Wendepunkte, Ereignisse innerhalb wie außerhalb einer Nation, Reaktionen auf technische und wirtschaftliche Stagnation und jeglichen Druck, Veränderungen vorzunehmen.

Bewährte stärkende Faktoren, um persönlich oder als Nation erfolgreich an Krisen zu wachsen, sind laut Diamond
• die Einsicht, sich in einer Krise zu befinden, eine ehrliche Selbsteinschätzung
• die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, nicht in Selbstmitleid, Opferrolle oder in Schuldzuweisungen an Außenstehende zu verharren
• das Problem eingrenzen und Veränderungen schrittweise anpacken können
• die Suche nach Vorbildern/Helfern/Unterstützern außerhalb der Familie/des eigenen Landes
• Ichstärke/ein starkes Nationalbewusstsein/Resilienz/nationale Grundwerte, die wiederum das Nationalbewusstsein stärken
• die Erfahrung, bereits Krisen gemeistert zu haben
• Durchhaltevermögen, falls erste Schritte nicht sofort Erfolge zeigen
• als Staat flexibel handeln können

Sieben Staaten sind ein sehr kleines Sample, wie Diamond feststellt, jedoch ausreichend, um seine Methode kennenzulernen. Im Rückblick finde ich die Auswahl, die sich allein aus der Biografie des Autors ergibt, sehr hilfreich, da sich zwischen den ausgewählten Staaten Gemeinsamkeiten herausarbeiten lassen. Wie Finnland sein Trauma aus Verrat der Verbündeten und dem Verlust nahezu einer kompletten Generation überwunden hat und heute als wirtschaftlich erfolgreicher demokratischer Staat brilliert, wird vermutlich kaum ein Leser wieder vergessen können.

Chile steht als Beispiel für Fehleinschätzungen, mangelhaftes Lernen von Vorbildern, aber auch für Folgen des Kolonialismus und fehlende Gewaltenteilung. Indonesien, vom Westen kaum wahrgenommen, weil es selten die Schlagzeilen dominiert, steht für Probleme eines Vielvölkerstaates, aber auch für einseitige Aufarbeitung der eigenen Geschichte. Deutschland sieht Diamond als einzigartigen Musterschüler in der Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte, besonders im Vergleich zu Japan und den USA. Australien zwingt uns zur Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus. Hier stellt sich nicht nur die Frage, wie Australien sich von einem rassistischen Staat (der den Zuzug asiatischer Ehepartner und Kinder untersagte) zum modernen Einwanderungsland vollzogen hat. Am Beispiel Australiens habe ich mich auch gefragt, wie die Folgen des Kolonialismus noch immer die Gegenwart bestimmen können.

Das für Europa hilfreichste - abschreckende - Beispiel bietet Japan, das sich im 19. Jahrhundert in einem langwierigen Prozess nach außen öffnete, indem es Schritt für Schritt und mithilfe aus dem Ausland selektive Veränderungen durchführte. Als überalterte Nation, die Zuwanderung ablehnt (damit jedoch eine fatale Abschottung der Wissenschaften schafft) und Frauen durch fehlende Kinderbetreuung vom Arbeitsmarkt fernhält, steht Japan aktuell für die soziale und wirtschaftliche Stagnation einer ehemals erfolgreichen Kultur. Diamond betont die mangelhafte Einsicht Japans in Probleme einer überalterten Bevölkerung, die Verschwendung von Resourcen, eine bis heute fehlende Reue gegenüber eigenen Kriegsgräueln - Haltungen, die sich als Starrsinn zusammenfassen lassen. Die Leugnung der eigenen Vergangenheit und das Beharren in Opferhaltung würden bis heute junge Japaner bei Auslandsreisen unvorbereitet mit dem Hass der betroffenen Nationen konfrontieren. Eine ehrliche Selbsteinschätzung setzt Bildung voraus …

Auch wenn die aktuelle Situation der USA nicht Thema des Buches ist, führt das Thema Krisenbewältigung zwangsläufig direkt darauf zu. Das schwierigste Jahrzehnt sei immer das aktuelle, meint Diamond dazu diplomatisch. Eine geopolitisch privilegierte Nation, autark durch Energiequellen und Nahrungsmittelproduktion, sei in seiner Heimat gerade dabei, die Demokratie und damit die Basis ihres Wohlstandes mit Füßen zu treten. Seine lange Liste fataler Entwicklungen in den USA sollten wir Europäer uns zu Herzen nehmen, an vorderster Stelle sicherlich die mangelnde Diskussionskultur und Empathie, die genau zu dem Starrsinn führen, der gerade in Japan zu beklagen ist. Dass mehr als 1/3 amerikanischer Nobelpreisträger im Ausland geboren sind, sieht Diamond als Standortvorteil, kein Wunder, ist der Autor selbst sein bestes Beispiel, warum es sich lohnt, über den nationalen Tellerrand zu sehen.

Gemeinsamkeiten zwischen einem gegenüber seinen drängenden Problemen erstarrten Japan, einem Amerika der alternativen Fakten und einem Deutschland, das von den genannten Zuständen nicht weit entfernt sind, überraschen nicht. Diamond liefert Fakten dafür, dass man aus der Geschichte lernen kann, (auch aus der Geschichte anderer Staaten). Er überzeugt durch seinen persönlichen Ansatz und den sachlichen Ton seines Buches. Ob über 400 Seiten dichtgedrängter Fakten noch ein leicht zugängliches Sachbuch zu nennen sind, darüber kann man streiten. Ich habe davon profitiert und kann das Buch empfehlen.