Rezension

Starke Figuren in einem explosiven Debütroman

Das wirkliche Leben - Adeline Dieudonné

Das wirkliche Leben
von Adeline Dieudonné

Bewertet mit 5 Sternen

Eine vierköpfige Familie  lebt irgendwo in Europa in einer gut bürgerlichen tristen Siedlung mit Haus, Garten und ein paar Haustieren. Im Mittelpunkt steht die Ich-Erzählerin, die Tochter der Familie, die allerdings namenlos bleibt, erlebt eine Kindheit und Jugend, die mehr mit Brutalität konfrontiert wird als mit Liebe. Der Vater, ein Jäger und Sammler von ausgestopfte Tieren tyrannisiert die Familie auf physische und psychische Art und Weise. Seine Ehefrau schüchtert er jahrelang ein, so dass sie den Kampf, sich zu wehren, aufgibt. Gilles, der Sohn und der einzige in der Familie, der einen Namen von der Autorin bekommt, hält in den ersten Lebensjahren ein inniges Verhältnis zu seiner Schwester bis zu dem Zeitpunkt, als der Vater den Sohn mit Waffen begeistert. Letztendlich schreckt der Vater vor nicht zurück, ob Mensch oder Tier, die er demütigt und verletzt.

Adeline Dieudonné beeindruckt mit ihrem Debütroman, indem sie mit Wucht, Explosivität und Nüchternheit starke Figuren sprachgewaltig und lebendig entwickelt hat. Starke Figuren deshalb, weil sie brutal und intensiv handeln, vor allem die Hauptprotagonistin, die hier als Ich-Erzählerin in der Rolle der Tochter dargestellt wird, und deren Vater, der eine einseitige Vaterrolle wiederspiegelt. Weit weg von Liebe und Emotionen wird dieser Roman erzählt. Dieser Roman ist zeit- und raumlos, denn er könnte in Belgien, aber auch in Deutschland, Schweden oder in England erzählt worden sein. Diese Familienkonstellation Vater, Mutter, Tochter und Sohn assoziieren ein Familienbild, dass in den deutschen bürgerlichen Stadtsiedlungen der 1960er oder 1970er Jahre handeln könnte, oder in den 1980er Jahren in England oder jedem anderen europäischen Land. Familien, wie sie hier dargestellt wird, gab und gibt es sicherlich noch, und man wünscht sich dabei, in solchen Verhältnissen nicht aufwachsen zu wollen. In Nebenschauplätzen spielen eine Nachbarsfamilie und ein Professor eine Rolle, die die Ich-Erzählerin bestärken und positive Momente aufflackern lassen. Ein Stück Hoffnungsschimmer.

Anhand der Szenen in der Geschichte sieht man, wie Machtverhältnisse in Familien und zwischen Geschlechtern entstehen, und was diese Verhältnisse aus Menschen macht. Man hofft während des Lesens immer wieder auf Vernunft und eine Umkehrung der negativen Verhältnisse zwischen den Figuren.

Ein gut erzählter und nachhaltiger Coming-of-Age Roman in der Hülle eines Debütromans. Mein bisheriges Lesehighlight im Frühjahr 2020.