Rezension

Starker Debütroman

Wir verlassenen Kinder - Lucia Leidenfrost

Wir verlassenen Kinder
von Lucia Leidenfrost

Bewertet mit 5 Sternen

Mischmasch aus Altvertrautem?⠀

Der Klappentext lässt direkt an den verstörenden Klassiker von Sir William Golding denken – “Der Herr der Fliegen”. Dieser ist ins kollektive Verständnis eingegangen als Urbild des Konflikts zwischen anerzogener Zivilisation und gewaltbereitem menschlichem Urinstinkt. Selbst wer das Buch nie gelesen hat, hat irgendwo im Hinterkopf das Bild eines fliegenumschwärmten Schweineschädels.⠀

Kinder, die auf sich alleine gestellt daran scheitern, ihre eigene zivilisierte Gesellschaft aufzubauen? Kinder, die zunehmend verrohen und letztendlich dastehen als gewalttätige kleine Bestien? Das suggeriert der Klappentext und es klingt allzu vertraut, daher begegnete ich dem Buch mit skeptischem Vorbehalt.⠀

Tatsächlich fühlte ich mich in manchen Szenen an “Herr der Fliegen” erinnert, in anderen dagegen an das Jugendbuch “Nichts” von Janne Teller, in dem Kinder versuchen, die Sinnlosigkeit des Lebens zu widerlegen, und in einer Spirale der Gewalt daran verzweifeln. Und doch ist “Wir verlassenen Kinder” keineswegs ein Abklatsch, wenn man genauer hinschaut – die Gemeinsamkeiten liegen mehr in der Erwartung der Lesenden als im eigentlichen Inhalt.⠀

Trotz der Ähnlichkeiten bietet der Roman einen Blick auf die Thematik, der unverbraucht ist.⠀
Die Kinder klammern sich an die selbst aufgestellten Regeln, auch wenn diese keinen Sinn mehr ergeben, und haben für Verstöße ein System der Bestrafung eingerichtet. Und ja, das eskaliert im Verlauf der Handlung, aber es erreicht in meinen Augen nicht ganz das Level der Gewalt in “Herr der Fliegen” oder “Nichts”. Und es fühlt sich einfach anders an – Lucia Leidenfrost findet neue Blickwinkel und einzigartige Worte, so dass man andere Bücher irgendwann beim Lesen vergisst. Dennoch ist ihr Roman nicht weniger beunruhigend und lässt die Leser:innen auch nicht weniger nach dem Sinn der Geschichte suchen.⠀

Ich las die Handlung mit einem immerwährenden Gefühl des kalten Elends.⠀

Wurden die Kinder bei Golding durch einen Unfall von der Zivilisation abgeschnitten, werden sie hier von ihren eigenen Eltern wissentlich zurückgelassen – unbarmherzig, wenn auch mit den besten Absichten. Es gibt keine Arbeitsplätze mehr im Umfeld des Ortes, daher müssen sie weiter entfernt nach Arbeit suchen, um ihre Familien zu ernähren. Da Krieg herrscht, wollen sie ihre Söhne und Töchter nicht mitnehmen ins Ungewisse, sondern wieder nachhause kommen, sobald Normalität einkehrt. Doch darauf warten die Kinder vergeblich. Schließlich lässt sie der Lehrer im Stich, dann auch der Pfarrer, es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis die Großeltern wegsterben… Und das Essen wird knapp.⠀

Man erfährt kaum etwas über diesen Krieg. Wer kämpft gegen wen? Was war die Ursache? Der Konflikt bleibt so verschwommen, dass die Geschichte jederzeit und an jedem Ort spielen könnte und dadurch eine beklemmende Allgemeingültigkeit erhält.⠀

Was ist echt, was spielt sich nur in den Köpfen der Kinder ab?⠀

Zwischendurch werden Briefe der Eltern zitiert, die in ihrer unbeholfenen Sprache auf mich eher wirkten wie Hirngespinste der Kinder, die sehnsüchtig auf niemals eintreffende Schreiben warten. Auch bei der beschriebenen Gewalt war ich mir oft unsicher, wo Gewaltfantasien aufhören und echte Gewalt beginnt. Wurde wirklich ein Kind nach einem Regelverstoß zur Strafe mit einem Stock ins Minenfeld geschickt, oder ist das nur eine Vorstellung, die auf den Erzählungen der Erwachsenen über das zerbombte und verminte Nachbardorf beruht? Haben sie wirklich den verhassten Alten ertränkt, der die Kinder immer unfreundlich behandelt hat, oder gibt ihnen die Vorstellung nur ein Gefühl der Kontrolle über ihr Schicksal?⠀

Diese Unsicherheit verleiht der Erzählung etwas Albtraumhaftes mit nur gelegentlichen Momenten der aussichtslosen und dennoch unerschütterlichen Hoffnung. Sie entwickelt eine fatalistische Sogwirkung, je mehr man sich als Leser:in hineinliest in das Leben dieser Kriegswaisen. Ihre Eltern sind so oder so für sie verloren, ob diese nun noch leben oder nicht, ihr bisheriges Leben ist unrettbar dahin – und im Grunde wissen sie das auch.⠀

Was, wenn nicht dieses Wissen, bringt sie dazu, sich so krampfhaft an die Reste ihrer Normalität zu klammern?⠀

Als Leser:in sollte man jedoch nicht allzu angestrengt nach Erklärungen suchen.⠀
Die Glaubhaftigkeit dieser Geschichte liegt nicht in Fakten begründet – es ist die zeitlose Wahrheit der Märchen und Sagen, die hier in ihrer ganzen Grausamkeit waltet. Gerade deswegen trifft sie die Leser:innen ins Mark, ungeachtet jeglicher Logik oder Begründung. Gerade deswegen funktioniert die Parabel und bietet eine Vielzahl an Interpretationsmöglichkeiten.⠀

Geht es hier wirklich um Krieg, oder ist der Krieg nur ein Bild für die Unbilden der menschlichen Natur? Geht es um zerrüttete Familien, verlorene Hoffnungen, geht es wie bei Golding um den Konflikt zwischen Zivilisation und Natur? Sind die Kinder wirklich Kinder, oder sind sie Platzhalter für die Verlustängste jedes Menschen? Auch die Großeltern wirken wie Symbole eines verlorenen Lebens. Alles ist möglich, obwohl eigentlich nichts mehr möglich ist.⠀

Dementsprechend fühlten sich die meisten Charaktere für mich auch weniger an wie Menschen aus Fleisch und Blut als wie Archetypen einer zum Scheitern verurteilten Heldenreise. Nur Mila schüttelt den Mantel der Allgemeingültigkeit ab und zeigt sich den Leser:innen in roher Verwundbarkeit als Individuum. Sie ist das isolierte Ich im Kontrast zum vielgestalten, schwarmähnlichen Wir der anderen Kinder – doch interessanter Weise wird ausgerechnet ihre Sicht nicht aus der Ich-Perspektive geschildert, sondern aus der Distanz eines personalen Erzählers. Aber gerade durch den Kontrast erreicht sie als Protagonistin eine umso größere Wirkung, unterstreicht umso mehr die Leitmotive der Erzählung.⠀

Interessanterweise steht Mila im größten Kontrast zu ihrem eigenen Vater, dem letzten noch verbleibenden Vater des Dorfes – und gleichzeitig dem bösen Wolf dieses Märchens. In Milas Gedanken hockt seine Aggression in Gestalt einer riesigen Spinne, die jederzeit zuschlagen kann, auf seinem Rücken.⠀

Inhalt und Sprache wirken perfekt zusammen.⠀
Der Stil ist schlicht, auf die blanken Knochen reduziert, doch Leidenfrost spielt auf dieser Klaviatur ein vielstimmiges Lied mit leiser Wucht und dichter Atmosphäre. Gerade die “wir”-Perspektive der Kinder schreibt sie in geradezu hypnotischen Worten. Das ist packend und unwiderstehlich – und so beklemmend wie ein Choralgesang, dessen Misstöne sich der genauen Analyse entziehen. Was bleibt ist ein tiefes elementares Grauen: die Urangst eines verlassenen Kindes.⠀

Fazit⠀

In Lucia Leidenfrosts Debüt herrscht ein unbestimmter Krieg. Wo? Warum? Das wird nicht näher erläutert. Es geht um die Kinder, die im Grunde zu Kollateralschäden dieses Konfliktes werden – aus Not verlassen von ihren Eltern, die anderswo nach Arbeit suchen müssen. Die Kinder stellen ihre eigenen Regeln auf, mit den dazugehörigen Strafen für Verstöße, doch sie verlieren mehr und mehr den Halt. Die Zivilisation wird zunehmend zur hauchdünnen Fassade.⠀

Doch schwingt immer eine gewisse Doppeldeutigkeit mit, so dass man sich als Leser:in fragt: was ist real, was ist nur Sinnbild für etwas anderes? So oder so bietet der Roman eine Vielzahl an Interpretationsmöglichkeiten und Lucia Leidenfrost erzählt das in einer hochinteressanten reduzierten Sprache.⠀

Definitiv ein sehr starker Debütroman und eine Autorin, die man im Auge behalten sollte!

Diese Rezension erschien zunächst auf meinem Buchblog:
https://wordpress.mikkaliest.de/rezension-lucia-leidenfrost-wir-verlasse...