Rezension

Stecht in See und hört das Flüstern der Medusa!

Das Floß der Medusa
von Franzobel

Bewertet mit 4.5 Sternen

Der deutsche Buchpreis. Die Shortlist. Ich habe es ja fast aufgegeben, etwas davon zu lesen, weil ich doch oft enttäuscht wurde von dem, was da so auf der Liste landete. Aber dieser Roman macht mir wieder Hoffnung! Das, was Franzobel aus dem 1816 exakt so geschehenen Untergang des Schiffs Medusa macht, ist tatsächlich Preisverdächtig.

Mit dem jungen Viktor schafft Franzobel schon zu Beginn einen Charakter, mit dem sich der Leser identifizieren kann, der genauso unbedarft das Schiff besteigt, wie ich und der neben all den schillernden und abstoßenden Gestalten, den Anschein von Normalität aufrechterhält.

Großartig fand ich Franzobels Sprache. Besonders seine Metaphern haben es mir angetan. Gerade, wenn es schlimm zugeht, kommt er mit einer wundervollen Naturbeschreibung um die Ecke. Beispiele gefällig?

Picard bemerkte die Blicke der Matrosen und Soldaten, die in seine aufblühenden Töchter krochen wie Wespen in Blütenkelche. (S.35)

[...] und darüber die Milchstraße erinnerte an Kinderatem auf einer Fensterscheibe. (S. 232)

Die Wolken und der Regen glichen einem dichten Vorhang, so als ob die Sonne nicht sehen sollte, wie man sie misshandelte. (S. 416)

Toll fand ich auch die sprachliche Unterscheidung der Charaktere: Es gibt viel Personal und ebenso viele schwer zu merkende französische Namen. Frabzobel löst das, indem er gewisse Attribute der Charaktere wiederholt. Sei es die Ähnlichkeit zu einem Filmstar, das Maiskolbengrinsen, das Sto- Sto- Stottern, ein roter Fez, die Frisur, Pickel oder ein Sprachfehler. So hatte ich keine Probleme, die Besatzung auseinanderzuhalten. Ja, Franzobel schreibt teilweise auch provokant. Das muss man abkönnen und darf nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen. Ebenso abkönnen sollte man ein paar derbe, eklige und brutale Szenen. Es gibt Thriller, die "krasser" daherkommen, aber ich war doch erstaunt, wie rau es selbst auf dem Schiff schon zugeht. Seemänner, habe ich gelernt, sind ein roher Haufen.

Dieses Buch hat eigentlich alles, was mach braucht. Es ist eine Abenteuergeschichte mit wilden und humorvollen Momenten. Es ist ein Drama voller Tragik und Grausamkeiten. Es ist eine Studie der (Un-) Menschlichkeit. Und vor allem: E s  i s t  s o  p a s s i e r t. Franzobel hält sich erschreckend nah an die Berichte des Unglücks. Ich war erst überrascht, wie ausführlich Franzobel auch die gesamte Schiffsreise – also nicht nur das Floß – behandelt. Letztlich hat mir das aber sehr gut gefallen. Die aufregende Reise, seine Genauigkeit, seine Sprache. Wunderbar! Also traut euch! Stecht in See und hört das Flüstern der Medusa....

Kommentare

wandagreen kommentierte am 12. Oktober 2017 um 21:06

Oh, Minzi, wie schön, dein letzter Absatz verzaubert mich!

Sursulapitschi kommentierte am 12. Oktober 2017 um 21:50

Mich auch. Ich würde sofort in See stechen, wenn ich  nicht schon da gewesen wäre.

LySch kommentierte am 13. Oktober 2017 um 10:23

Ich möchte auch in See stechen! Sofort. Das Buch zieht mich wirklich sehr an... und der letzte Absatz ist wirklich schön, Minzi! :) *Vorrednern zustimm* Der Rest natürlich auch ;)

yvy kommentierte am 15. Oktober 2017 um 17:09

Wunderbares Bild. Minzi, du hast es perfekt getroffen. ♡