Rezension

Stiller, atmosphärischer, überraschend tiefgründiger Roman, der berührt

Alte Sorten - Ewald Arenz

Alte Sorten
von Ewald Arenz

~ „Alte Sorten“ ist ein stiller, eindringlicher kleiner Roman, der mich absolut verzaubern konnte. Ewald Arenz schreibt wunderschön, atmosphärisch, poetisch und feinfühlig. Die kreativen Vergleiche und Metaphern zergehen einem auf der Zunge wie ein Stück reife Birne. Es ist ein Schreibstil zum Hineinlegen und Genießen! Es handelt sich um ein entschleunigendes Buch, das aber trotzdem auch seine dramatischen, spannenden, berührenden und hochemotionalen Momente hat. Zudem behandelt der Autor Themen wie das Dorfleben, gesellschaftliche Erwartungen, Engstirnigkeit, unerfüllte Träume, alte Verletzungen und Einsamkeit unerwartet tiefgründig. Es ist erstaunlich, wie gut es Ewald Arenz gelingt, sich als Mann in seine beiden starken, vielschichtigen Heldinnen hineinzufühlen und wie nuanciert und mühelos er deren Innenwelt einfängt. Beide Hauptfiguren, die stoische Liss und die wütende Sally, sind sehr komplex, zeigen sich verletzlich, und sind mir mit jeder Seite mehr ans Herz gewachsen. Auch was die dichte Atmosphäre und den Spannungsaufbau betrifft, bin ich sehr zufrieden, denn: Gerade in dem Moment, in dem ich mir dachte, dass ich etwas mehr Spannung vertragen könnte, folgten einige unerwartete Wendungen und atemlos spannende, emotionale und dramatische Ereignisse. Kurz: „Alte Sorten“ ist ein rundum gelungener, tiefgründiger Roman, den ich euch nur wärmstens ans Herz legen kann. ~

Inhalt

Sie scheinen grundverschieden zu sein: Die junge, rebellische Sally, die aus einer Klinik ausgebrochen ist, und die ruhige, stoische, um dreißig Jahre ältere Liss, die zurückgezogen auf ihrem Bauernhof lebt. Als die beiden Frauen zufällig aufeinandertreffen und Sally Liss hilft, bietet diese ihr an, eine Nacht auf ihrem Hof zu verbringen. Aus dieser einen Nacht werden Wochen. Langsam entwickelt sich eine ganz besondere Beziehung zwischen den Frauen. Und bald wird klar, dass die beiden sich ähnlicher sind, als es auf den ersten Blick scheint…

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Verlag: DuMont
Seitenzahl: 256
Erzählweise: Figuraler Erzähler, Präteritum
Perspektive: weibliche Perspektive (Liss und Sally)
Kapitellänge: mittel bis kurz
Tiere im Buch: - Für TierliebhaberInnen ist dieses Buch nicht immer leicht zu ertragen, da das Leben auf dem Dorf oft damit einhergeht, dass Tiere verletzt oder getötet werden. Es gibt Rinder, die immer noch in Kettenhaltung leben, ein Reh wird angefahren und durch einen Schuss mit einer Pistole erlöst, ein Schwein wird geschlachtet und Hühner werden getötet. Immerhin zeigt sich Liss (bis auf einen Vorfall) als Tierfreundin, was positiv ist.

Warum dieses Buch?

Bei diesem Buch habe ich mich ins Cover und in die sehr vielversprechende Leseprobe verliebt. Sofort war mir klar, dass ich diese Geschichte unbedingt lesen musste! Ich wollte unbedingt wissen, wie es mit Sally und Liss weitergeht.

Meine Meinung

Einstieg (+)

Der Einstieg fiel mir leicht. Es dauerte nur wenige Seiten, bis ich in der Geschichte angekommen war und ihre entschleunigende Wirkung beim Lesen gespürt habe.

"Auf den abgeernteten, von Stoppeln glänzenden Feldern stand der Weizen noch als überwältigender Geruch nach Stroh; staubig, gelb, satt. Der Mais begann, trocken zu werden, und sein Rascheln im leichten Sommerwind klang nicht mehr grün, sondern wurde an den Rändern heiser und wisperig." Seite 5

Schreibstil (♥)

Ewald Arenz hat einen unglaublich schönen, atmosphärischen, oft leisen, aber dennoch sehr eindringlichen Schreibstil. Er schreibt etwas anspruchsvoller (aber trotzdem flüssig und anschaulich) und verwöhnt seine LeserInnen mit unglaublich gelungenen sprachlichen Bildern und poetischen Formulierungen. Die kreativen Vergleiche und Metaphern zergehen einem auf der Zunge wie ein Stück reife Birne. Ich habe beim Lesen den Wind im Haar und die Hitze auf der Haut gespürt und den Geruch der reifen Früchte beinahe selbst gerochen. Es handelt sich hierbei um einen Schreibstil, der sowohl in ruhigen als auch in dramatischen, emotionalen und spannenden Momenten glänzen kann. Sehr gut gefallen hat mir auch, dass Ewald Arenz gefühlvoll erzählt, ohne dabei jemals pathetisch oder kitschig zu werden. Ein Balance-Akt, der dem Autor problemlos gelingt. Kurz: Es ist ein Schreibstil zum Hineinlegen und Genießen!

Ganz wunderbar fand ich auch, wie sich die Sprache den verschiedenen Persönlichkeiten der zwei Frauen in ihren jeweiligen Kapiteln anpasst. Das verleiht ihrer Erzählstimme große Authentizität. In sehr emotionalen Momenten zerfällt die geordnete Sprache auch mal in eine Art Bewusstseinsstrom, wird chaotisch und spiegelt die Gefühle der Figur eindrucksvoll wider. Großartig!

„Und dann spürte sie, wie es tief innen in ihr wild kratzte, wie das lange eingesperrte Tier in ihr zu toben begann und dann, wie ein plötzlich aufloderndes Feuer, die Wut in ihr hochschlug.“ Seite 83

Inhalt, Themen, Botschaften & Ende (♥)

„Alte Sorten“ ist ein sehr entschleunigendes Buch, das einem Kurzurlaub auf dem Lande gleicht. Das Leben auf dem Bauernhof hat etwas Beruhigendes. Es muss tröstlich sein, einen festen Tagesablauf ohne Überraschungen zu haben, am Tag hart körperlich zu arbeiten und am Abend müde ins Bett zu fallen. Viele verschiedene Arbeitsschritte werden dabei detailliert geschildert, ohne dass das Geschriebene jedoch je langatmig wird. Ganz nebenbei habe ich viel Neues (z. B. über Bienen) dazugelernt. Neben der interessanten Beziehung und Dynamik zwischen Sally und Liss wird auch das Dorfleben sehr gelungen porträtiert. Die schönen, aber auch die anstrengenden Seiten werden sehr treffend eingefangen – wodurch das Buch in geringem Maße auch Züge einer Milieustudie aufweist.

Was mich beim Lesen am meisten überrascht hat, ist die unerwartete Tiefe der Geschichte, die mich absolut begeistert hat. Es geht in „Alte Sorten“ um das Gefühl, nicht dazu zu passen, um gesellschaftliche Erwartungen, Engstirnigkeit, unerfüllte Träume, alte Verletzungen, Gewalt gegen Kinder, Einengung durch die Eltern, Suizidgedanken, psychische Krankheiten, Selbstverletzung und Einsamkeit. Alle diese Themen behandelt der Autor feinfühlig und tiefgreifend und hat so eine einzigartige Geschichte geschaffen, die mich berührt hat und die mir lange in Erinnerung bleiben wird. Das Ende hat mir ebenfalls sehr gut gefallen – ich mochte den hoffnungsvollen Unterton, der leise mitschwingt.

„Jede Frage und jede Antwort spann einen Faden zwischen dem Mädchen und ihr. Wenn man von jemandem alles wusste, dann konnte man ihn an tausend Fäden halten.“ Seite 49

Haupt- & Nebenfiguren (♥)

Die Figurenzeichnung ist ebenfalls sehr gut gelungen. Die wütende, rebellierende Sally und die ruhige, einzelgängerische Liss sind vielschichtige, komplexe Figuren, die beide ihr Päckchen zu tragen haben. Vereinzelt gibt es Rückblenden, die uns helfen, zu verstehen, wie Liss und Sally zu dem geworden sind, was sie heute sind. Beide sind auf ihre Weise sehr sympathisch, haben Schwächen und offenbaren nach und nach auch ihre verletzlichen Seiten. Mit jeder Seite sind mir diese zwei ungewöhnlichen Frauen mehr ans Herz gewachsen. Es ist erstaunlich, wie gut es dem männlichen Autor gelingt, sich in diese zwei Frauenseelen einzufühlen und wie nuanciert er ihr Innenleben einfangen kann. Vielleicht hat Ewald Arenz sein Beruf als Lehrer hierbei geholfen.

Es gibt nur sehr wenige Nebenfiguren, die eine Rolle in der Geschichte spielen – im Fokus stehen nämlich eindeutig die beiden starken Frauenfiguren. Jene Charaktere, die aber dennoch den Weg der beiden Frauen kreuzen, sind angemessen ausgearbeitet und wirken ebenfalls sehr glaubwürdig und authentisch. Am liebsten mochte ich hier Anni, diese beeindruckende alte Persönlichkeit, die es sich nicht nehmen lässt, auch im hohen Alter noch mit dem Rad durchs Dorf zu fahren.

„‘Und ich weiß, wie es ist, wenn dieses Gefühl, wenn diese Sicherheit, besonders zu sein, Stück für Stück kaputt geht wie ein Baum, den man in die falsche Erde gepflanzt hat, und ihn mit Stricken und Pfählen dazu zwingt, von der Sonne weg zu wachsen.‘“ Seite 157

Spannung & Atmosphäre (♥)

„Alte Sorten“ ist ein stiller, eindringlicher kleiner Roman, der mich fasziniert hat und absolut überzeugen konnte. Die entschleunigende, dichte Atmosphäre hat mir von Anfang an gut gefallen – und gerade in dem Moment, in dem ich mir dachte, dass ich etwas mehr Spannung vertragen könnte, bekam ich diese auch, weil einige unerwartete Wendungen und atemlos spannende, emotionale und dramatische Ereignisse folgten. Auch was den Spannungsaufbau betrifft, hat der Autor in diesem Buch also alles richtig gemacht.

Feministischer Blickwinkel (♥)

Ich finde es toll, dass zwei so starke, mutige Frauen im Zentrum dieser Geschichte stehen. Ewald Arenz zeigt, dass auch eine Frau alleine einen Bauernhof führen und die körperlich fordernde Arbeit erledigen kann. Es gibt zwar einige Momente, in denen frauenfeindliche Sprache und gegenderte Beschimpfungen vorkommen (Schlam--, Fo---), aber diese Wörter benutzt Sally, um in jugendlicher Manier zu rebellieren und möglichst zu schockieren, weswegen diese Ausdrücke einen Zweck haben und ich sie verzeihen kann.

Mein Fazit

„Alte Sorten“ ist ein stiller, eindringlicher kleiner Roman, der mich absolut verzaubern konnte. Ewald Arenz schreibt wunderschön, atmosphärisch, poetisch und feinfühlig. Die kreativen Vergleiche und Metaphern zergehen einem auf der Zunge wie ein Stück reife Birne. Es ist ein Schreibstil zum Hineinlegen und Genießen! Es handelt sich um ein entschleunigendes Buch, das aber trotzdem auch seine dramatischen, spannenden, berührenden und hochemotionalen Momente hat. Zudem behandelt der Autor Themen wie das Dorfleben, gesellschaftliche Erwartungen, Engstirnigkeit, unerfüllte Träume, alte Verletzungen und Einsamkeit unerwartet tiefgründig. Es ist erstaunlich, wie gut es Ewald Arenz gelingt, sich als Mann in seine beiden starken, vielschichtigen Heldinnen hineinzufühlen und wie nuanciert und mühelos er deren Innenwelt einfängt. Beide Hauptfiguren, die stoische Liss und die wütende Sally, sind sehr komplex, zeigen sich verletzlich, und sind mir mit jeder Seite mehr ans Herz gewachsen. Auch was die dichte Atmosphäre und den Spannungsaufbau betrifft, bin ich sehr zufrieden, denn: Gerade in dem Moment, in dem ich mir dachte, dass ich etwas mehr Spannung vertragen könnte, folgten einige unerwartete Wendungen und atemlos spannende, emotionale und dramatische Ereignisse. Kurz: „Alte Sorten“ ist ein rundum gelungener, tiefgründiger Roman, den ich euch nur wärmstens ans Herz legen kann.

Bewertung

Idee, Themen, Botschaft: 5 Sterne ♥
Umsetzung: 5 Sterne ♥
Worldbuilding: 5 Sterne ♥
Einstieg: 5 Sterne
Schreibstil: 5 Sterne ♥
Figuren: 5 Sterne ♥
Atmosphäre: 5 Sterne ♥
Spannung: 4,5 Sterne
Ende / Auflösung: 5 Sterne ♥
Emotionale Involviertheit: 5 Sterne ♥
Feministischer Blickwinkel: ♥

Insgesamt:

❀❀❀❀❀♥ Lilien

Dieses Buch bekommt von mir fünf begeisterte Lilien und ein Herz – und somit den Lieblingsbuchstatus!