Rezension

Strafverteidigerin in der Opferrolle

Prima facie -

Prima facie
von Suzie Miller

Bewertet mit 4.5 Sternen

Tessa Ensler arbeitet in London als Strafverteidigerin am legendären Zentralen Strafgerichtshof Old Bailey. Mit der Nominierung für die Wahl des Strafverteidigers des Jahres hat sie den nächsten Karriereschritt bereits vor Augen. Robe, Kragen, Perücke, Barrister Bag - die Insignien ihres Berufes verbindet die junge Frau mit Haltung und Selbstbewusstsein. Ihr beruflicher Erfolg ist hart erkämpft. Tessa stammt aus einfachen Verhältnissen, studierte mit einem Stipendium und sieht sich inzwischen mit der gläsernen Decke konfrontiert, dass nahezu alle Kolleg:innen aus Juristen-Dynastien der Oberschicht stammen und persönliche Netzwerke auf kostspieligen Privatschule knüpfen konnten.

Als Tessas Kanzlei-Kollegin anmerkt, dass Tessa zunehmend Angeklagte in Gewalt-Delikten vertritt, grübelt sie selbst bereits, ob ihre Entscheidung für die Seite der Verteidigerin das ist, was sie mit ihrem Studium ursprünglich erreichen wollte. Schon in ihrer Einführungsvorlesung hatte sie realisiert, dass Zeugenaussagen selten zuverlässig sind. Als Kron-Anwältin der Verteidigung demontiert sie im Kreuzverhör inzwischen in sachlichem Ton Aussagen Geschädigter. Durch Abweisung der Klage kommen jedoch immer öfter Schuldige straflos davon. Als Tessa selbst Opfer sexueller Gewalt wird, steht ihre berufliche Karriere auf dem Prüfstand. Sie müsste – am Ort ihrer eigenen Tätigkeit – öffentlich im Zeugenstand aussagen. Sie kennt die Verfahren zu genau von der anderen Seite der Barriere. Jeder würde von der Tat erfahren und ihr Sexualleben öffentlich zerpflückt, um ein Einvernehmen mit dem Täter zu konstruieren. Da die Gegenseite eine Verteidigung von Tessas Format aufzubieten hat, würde der Vergewaltiger mit hoher Wahrscheinlichkeit straflos davon kommen. Tessa muss für sich selbst sprechen – und wer könnte besser im Interesse aller betroffenen Frauen sprechen als eine mit allen Wassern gewaschene Strafverteidigerin …

Tessas Aufstieg aus der Unterschicht bis an Englands berühmten Gerichtshof erzählt Suzie Miller zu ausführlich, da die britische Klassengesellschaft und das Privatschulsystem bereits von anderen Autor:innen aufs Korn genommen wurden. Die Handlung kommt m. A. nach zu langsam in Gang, weil zu viel Offensichtliches ausgebreitet wird. Für ein deutsches Lesepublikum kann das britische Gerichtsverfahren befremdlich wirken, in dem die Geschädigten weder als Nebenkläger mit eigenem Anwalt auftreten noch im Verfahren von einer spezialisierten Beratungsstelle begleitet werden.

Als Porträt einer Frau, die sich aus einfachen Verhältnissen heraus studierte und zu spät erkennt, auf wessen Seite sie sich damit stellte, ist Prima Facie (dt. = dem ersten Anschein nach, bis auf Widerruf) ein wichtiges, mitreißendes Buch. Tessa ist nicht auf der Seite der Macht und ererbter Vermögen geboren, sondern hat ihre Position durch Leistung erreicht. Als Überlebende von sexueller Gewalt setzt sie vor Gericht ihre gesamte Existenz aufs Spiel. Auch wenn die Anzahl der „Guten“ in Tessas Leben übertrieben scheint, wirken die Nebenfiguren glaubwürdig und repräsentativ (der zweifelnde Kollege Adam, allerbeste Freundin Mia selbst über Tausende Kilometer hinweg, ihre Schwägerin Cheryl, Polizist:innen, ihr Mentée Phoebe).

Der zuerst für die Bühne verfasste Text zeigt eine Frau mit zwei Leben, die sich durch ihren beruflichen Aufstieg keinem der Milieus mehr zugehörig fühlt. Suzie Miller mutet ihren Leser:innen harten Tobak zu, der durch Eigenheiten des britischen Justizsystems deutschen Leser:innen nicht leicht zu vermitteln sein wird.