Rezension

Studie von 1895, anteilig hochaktuell

Psychologie der Massen - Gustave Le Bon

Psychologie der Massen
von Gustave Le Bon

Bewertet mit 4 Sternen

Detaillierte Anleitung zur Beeinflussung von Massen. Ob allein das Lesen ausreichend Schutz dagegen bieten kann? Es ist ein erster Schritt.

1895 hat sich Gustave Le Bon mit der Psychologie der Massen beschäftigt und festgestellt, dass sich der Einzelne unabhängig von seinem Intellekt in der Gemeinschaft dem Mainstream hingibt und ohne Hinterfragen einer anerkannten Führungspersönlichkeit folgt. Auf Seite 38 bringt Le Bon es mit dieser Metapher „In der Masse gleicht der einzelne einem Sandkorn in einem Haufen anderer Sandkörner, das der Wind nach Belieben emporwirbelt.“ auf den Punkt.

Le Bon definiert den sogenannten Führer über bestimmte Eigenschaften, die er als Voraussetzung der Rolle ansieht. Eine übergeordnete Bedeutung kommt dabei dem persönlichen Nimbus, einem besonderen Ansehen bzw. Ruf, zu. Mit dieser Erkenntnis erscheint der Nimbus 2000 von Harry Potter gleich in einem ganz anderen Licht. Die führenden Revolutionäre, Robespierre und Danton, dienen ihm bei seinen Ausführungen als Beispielgeber. Eine Kurzfassung seiner detaillierten Ausarbeitung findet sich auf Seite 112: „Meistens sind die Führer keine Denker, sondern Männer der Tat. Sie haben wenig Scharfblick und könnten auch nicht anders sein, da der Scharfblick im Allgemeinen zu Zweifel und Untätigkeit führt. Man findet sie namentlich unter den Nervösen, Reizbaren, Halbverrückten, die sich an der Grenze des Irrsinns befinden. ... Die Stärke ihres Glaubens verleiht ihren Worten eine große suggestive Macht. Die Menge hört immer auf den Menschen, der über einen starken Willen verfügt. Die in der Masse vereinigten Einzelnen verlieren allen Willen und wenden sich instinktiv dem zu, der ihn besitzt.“ 

Erschreckend für mich ist die auffällige Parallelität zwischen Le Bons Aussagen und heutigen Führungskräften bestimmter Gruppierungen. In diesem Zusammenhang lässt zumindest kurzfristig hoffen,  bildungs- / erziehungsferne Massen „… wirken […] gleich jenen Mikroben, welche die Auflösung geschwächter Körper oder Leichen beschleunigen. Ist das Gebäude einer Kultur morsch geworden, so führen die Massen seinen Zusammenbruch herbei.“ (S. 25). Abschließend stellt Le Bon klar, dass die Gesellschaftsformen eines Volkes einem steten Wechsel unterliegen. Fühlt sich die Masse eines Volkes benachteiligt, kommt es zu einem Umsturz, gefolgt von einer ruhigeren Phase, in der sie ausreichend Achtung erfahren, bis sich eine neue Masse von Benachteiligten herauskristallisiert.

Aus heutiger Sicht kritisch sehe ich die Sprache Le Bons. Wer gern populärwissenschaftliche Literatur liest, muss sich ganz schön anstrengen und sich durch die ungewöhnlichen Satzkonstruktionen kämpfen. Weiterhin störend, weil durch unsere Historie negativ belastet, empfinde ich die durchgehende Verwendung der Begriffe Führer und Rasse. Zudem treten immer wieder Le Bons politische Ansichten zu Tage. Da die Hirnforschung offensichtlich noch nicht besonders fortgeschritten war, sollte man Aussagen wie „das Unbewusste kommt aus dem Rückenmark“ nicht überbewerten. Trotzdem fand ich die Lektüre interessant. Ich bin begeistert von den umfassenden Erkenntnissen, die Le Bon bereits vor der Jahrhundertwende zum 19 Jahrhundert präsentieren konnte.