Rezension

Sturz eines Idols

Go Set a Watchman - Harper Lee

Go Set a Watchman
von Harper Lee

Bewertet mit 3 Sternen

Wenn der zweite Roman der erste ist…
Mit fast 60jähriger Verspätung ist jetzt Harper Lees Roman “Go Set a Watchman” erschienen. Der Verlag hatte das 1956 von der damals 30jährigen verfasste Manuskript abgelehnt und Änderungen vorgeschlagen. Daraus wurde der über 40 Millionen Mal verkaufte Weltbestseller “To Kill a Mockingbird“. In dem jetzt erschienen Roman wird nicht mehr aus der Sicht der 6jährigen Scout erzählt, sondern die 26jährige Jean Louise kehrt in ihren Heimatort zurück und erlebt dort einige böse Überraschungen mit ihrem Vater Atticus Finch, ihrem Freund Henry Clinton genannt Hank und der früheren farbigen Köchin Calpurnia. Die Menschen, die sie ihr Leben lang geliebt und verehrt hat, erscheinen ihr völlig verändert.

Erzählt wird aus Jean Louises Perspektive mit zahlreichen Rückblenden in die Vergangenheit. Diese Kapitel über die glücklichen, schier endlosen Sommer der Kindheit scheinen der Hauptgrund für den Änderungsvorschlag der Lektorin gewesen zu sein und lesen sich immer noch besser als die etwas trockenen, nur formal in Dialoge eingebetteten Diskussionen über Bürgerrechte, den 10. Verfassungszusatz, das Urteil des Supreme Court zur Aufhebung der Rassentrennung in Schulen, amerikanische Geschichte und die Überzeugungen von Thomas Jefferson.

Die Sensation für die heutigen Leser sind jedoch die Änderungen an der Figur des Atticus Finch. Aus der Figur des aufrechten Juristen, der einen unschuldigen jungen, der Vergewaltigung eines weißen Mädchens angeklagten Farbigen verteidigt, scheint ein unsympathischer Rassist geworden zu sein, dessen Äußerungen heutige Leser schockieren, es sei denn, sie sind eingefleischte White Supremacists: “Do you want Negroes by the carload in our schools and churches and theaters? Do you want them in our world?“ (S. 245) oder “Do you want your children going to a school that´s been dragged down to accodmodate Negro children?“ (S. 246). Zusammen mit Henry Clinton besucht Atticus die örtliche Bürgerversammlung (“citizen council”), die als die gemäßigtere, gewaltfreie Variante des Ku Klux Klans anzusehen ist und hört sich kommentarlos die rassistischen Hasstiraden eines Redners an. Der Höhepunkt des Romans ist zweifellos die Auseinandersetzung von Atticus mit seiner Tochter Jean Louise, in der er seine Position begründet. Er beruft sich auf den Staatstheoretiker und Präsidenten Thomas Jefferson. Jefferson war überzeugt, dass das Wahlrecht etwas ist, das man sich verdienen muss. Auch Atticus Finch glaubt, dass man die zurückgebliebenen Schwarzen nicht einfach wählen lassen dürfe. Zu leicht könnten dann durch die Mehrheitsverhältnisse unfähige Politiker gewählt werden, die den geliebten Staat Alabama herunterwirtschaften würden. Nur durch die Anpassung an die Lebensverhältnisse der Weißen seien die Schwarzen überhaupt so weit gekommen. Bis zur Verleihung der allgemeinen Bürgerrechte sei es aber noch ein weiter Weg und sie bedürften der beschützenden Aufsicht der Weißen.

Solche Anti-Bürgerrechtsargumente wirken heutzutage völlig veraltet und sind für jeden Demokraten inakzeptabel. Jean Louises Überzeugungen sind den Argumenten ihres Vaters diametral entgegengesetzt. Man kann nur spekulieren, ob es neben den formalen Schwächen des Romans auch solche inhaltliche Aspekte waren, die einer Veröffentlichung 1956 entgegenstanden.

Man muss sich tatsächlich immer vor Augen halten, dass der “neue” Roman den “alten” inhaltlich fortsetzt, von der Entstehungsgeschichte her aber das frühere Werk ist mit erkennbaren Mängeln vor allem zum Ende hin. Der halboffene Schluss kommt recht plötzlich, erscheint wenig plausibel und wirkt unfertig, skizzenhaft. Interessant ist der Text allemal als Produkt seiner Zeit, als realistischere Ergänzung zu dem eher idealistischen Wohlfühlroman “To Kill a Mockingbird”. Gut lesbar sind vor allem die recht witzigen Episoden aus Scouts Kindheit und Jugend.

Trotz des Riesenwirbels, den die späte Veröffentlichung verursacht hat, gibt es inzwischen genug kritische Stimmen. Hat es das jemals gegeben, dass ein Buchhändler den unzufriedenen Kunden den Kaufpreis erstattet, wenn sie das Buch in den Laden zurückbringen, wie es die Firma Brilliant Books in Traverse City, Michigan gerade tut?