Rezension

Teils sehr explizite, aber wenig substanzielle Betrachtung einer rastlosen Seele

All das zu verlieren - Leïla Slimani

All das zu verlieren
von Leila Slimani

Adéle ist verheiratet und hat einen kleinen Sohn. Sie als Journalistin und er als Chirurg können sich eine Wohnung in einem schicken Pariser Viertel leisten und noch so manch andere Annehmlichkeit. Aber Adéle ist nicht glücklich. Ihr Job ödet sie an, eigentlich wollte sie nie arbeiten müssen. Sie führt dieses Leben nur, weil es sich eben so gehört, man das in ihrem Alter und in ihrem Umfeld so macht. Ob sie ihren Mann liebt? Unklar. Dafür trifft sich Adéle mit anderen und oft fremden Männern um mitunter ziemlich harten Sex zu haben. Doch auch das kann die Leere im Inneren nicht fühlen und Adéle begibt sich in eine Spirale, die alles zu zerstören droht.

Den ersten Roman der Autorin habe ich sehr begeistert gelesen. In "Dann schlaf auch du" verarbeitete die Autorin einen realen Fall und öffnete die Augen für eine ganze Gruppe prekär Angestellter in der heutigen Zeit und im heutigen Umfeld aufstrebender Städter mit Oberschichten-Lebensstil. Bei "Alles zu verlieren" geht meiner Meinung nach dieser gesellschaftliche Blick ein wenig verloren. Wie sehr das Geschehen ganze Gruppen betrifft, bleibt schwer abschätzbar. Sicherlich fügen sich auch hier viele in einen Stereotyp eines Lebens, den sie eigentlich gar nicht mögen. Aber eigentlich geht es mehr um Adéles egoistische Triebe und ihre pathologische Langeweile. Mag sein, dass man sie auch als Suchtkranke betrachten kann, denn schließlich beobachtet der Leser ihre stetige Suche nach einem immer stärkeren Kick, für den sie zunehmend Risiken in Kauf nimmt und schließlich Gefahr läuft, alles zu verlieren. Doch es ist beim Lesen schon ziemlich hart, das Ganze mit "anzusehen". Diverse sexuelle Eskapaden werden doch recht detailliert beschrieben und Adéle kann ihrem Leben so wenig Positives abgewinnen, dass es schwer ist, Sympathie für sie zu entwickeln. Ihre Anbahnungen werden immer  plumper und man hat beinahe schon Fremdschämmomente. Was mich am meisten irritert hat, ist Adéles plötzlicher Wandel. Lange Zeit wirkt sie sehr selbstermächtigt, selbstbewusst und zielstrebig, wenn auch nicht beruflich, so dennoch, was ihre eigenen Wünsche angeht. Doch plötzlich, obwohl für die Entwicklung dankbar, wirkt sie passiv, unterwürfig und versteht sich plötzlich selbst als Opfer; ein Opfer ihrer Sucht. Jegliche Selbstinitiative und Selbstermächtigung sind verschwunden.

Unbestritten finde ich, dass die Autorin einen ansprechenden und anspruchsvollen Schreibstil hat, der diese zumeist deprimierende Geschichte sehr literarisch transportiert. Doch die Geschichte selbst hat in meinen Augen eher weniger Substanz und weniger gesellschaftliche Relevanz, sodass sie letztlich bei mir nicht langfristig verfangen hat und ich den teils recht expliziten Beschreibungen und einer unsympathischen Protagonistin nur widerwillig gefolgt bin.