Rezension

„Teufelsbrut“

Das Haus der Verlassenen - Emily Gunnis

Das Haus der Verlassenen
von Emily Gunnis

Bewertet mit 5 Sternen

Wenn ungewollt Schwangere verstoßen, missachtet und misshandelt werden

„Das Haus der Verlassenen“ (englischer Titel: The girl in the letter) ist der im März 2019 im Heyne Verlag erschienene Debutroman der englischen Autorin und Drehbuchschreiberin Emily Gunnis.

…. „Teufelsbrut“, ja so werden die unehelich und außerehelich geborenen Babys von den Nonnen im Mutter-Kind-Heim St. Margaret's genannt!...

Sussex, 1956: Die junge Ivy Jenkins wird von ihrer großen Liebe, einem angehenden Fußballstar schwanger. Es ist eine Schande! Und so schickt sie ihr kaltherziger Stiefvater – auch auf Anraten des Hausarztes – ins naheliegende Heim für ledige Mütter, das St. Margaret's. Schlimme, harte Jahre fristet sie dort ihr Dasein. Verlassen wird sie diese Höhle nie mehr.....

Ihr einziger Lichtblick in dieser Hölle ist ein junges, etwa 8-jähriges Mädchen namens Elvira, mit der sie sich anfreundet und zur Flucht aus dem Heim verhilft. Sie soll ein besseres Leben haben als sie und hofft, dass es ihr gelingt, ihre Zwillingsschwester Kelly aufzusuchen, die bei ihrer richtigen Familie wohnen darf. Die Flucht gelingt, aber...

Anfang Februar 2017 entdeckt die junge, alleinerziehende Journalistin Samantha (Sam) in der Wohnung ihrer seit einem Jahr verwitweten Großmutter (Nana) einen herzergreifenden Brief der jungen Ivy, geschrieben an den den Vater (Alistair) des gemeinsamen Kindes. Sam, ist neugierig und will wissen, wie und warum in aller Welt solch ein bewegender Brief im Besitz ihrer Großeltern geraten ist. Der journalistische Ehrgeiz packt sie und so beginnt eine spannende und aufreibende Recherche, die die Aufarbeitung der eigenen Familiengeschichte mit einbezieht, wobei grausige und auch blutige Details, die bis in die Gegenwart reichen ans Licht kommen.

Dieser Roman hat mich gepackt wie es seit langem kein anderer mehr geschafft hat. Von den ersten Sätzen an, die mit einem bewegenden Brief der jungen Ivy an Elvira beginnen, schafft es der Roman die absolute Aufmerksam zu erzielen. Man ist gleich mitten im Geschehen und kommt gar nicht mehr raus; ein hundertprozentiger rasanter Pageturner!

Schon allein das Cover-Bild hat mich richtig in den Bann gezogen!

Beim Cover bekommt der Name „Einband“ eine richtige Bedeutung, da das Umschlagbild sich vom Frontdeckel über den Buchrücken bis Rückdeckel erstreckt. Das gezeichnete Bild kommt mit seinen farblich abgestimmten Feinheiten schon einem Kunstwerk gleich. Man kann sich in dem Bild mit dem verlassenen Anwesen – welches das St. Margaret's-Heim darstellen soll - , eingegrenzt von einem schmiedeeisernen Zaun, richtig verlieren. So waren wohl auch die vielen ungewollt schwangeren, meist junge Frauen teils auch junge Teenager, in dem Haus verloren.

Der fiktive Roman, der der Kategorie „Romane und Erzählungen“ zugeordnet ist, ist meines Erachtens aber ein gelungenes Beispiel, genreübergreifend zu arbeiten:

Die historische Komponente kommt nicht zu kurz. So geht es in der Geschichte um die Darstellung und Aufarbeitung eines düsteren Kapitels des 20. Jahrhundert, die Magdalenenheime. Dies waren Mutter-Kind-Heime (meistens religiöse Träger), in die ungewollt Schwangere von ihren Familien abgeschoben wurden, um dort ihr Kind auf die Welt zu bringen, welches dann oftmals auf Druck der Familie, Ärzte und Sozialarbeiter zur Adoption freigegeben werden mussten. Die jungen Mütter waren in den Einrichtungen sämtlichen Schikanen ausgesetzt und wurden mit extremer Verachtung behandelt. Außerdem wird angedeutet, dass an vielen jüngeren Kindern, die z.B. aufgrund einer leichten Behinderung nicht adoptiert wurden, Medikamentenversuche durchgeführt wurden.

Des weiteren hat der Roman Züge eines Krimis (wenn nicht sogar Thrillers). Im Laufe der Erzählung stellt sich heraus, dass viele Menschen, die in den Briefen von Ivy an Alistair erwähnt wurden, auf mysteriöse Art und Weise in den letzten – etwa - 50 Jahren ums Leben gekommen sind. Aufgeklärt wurden diese Todesfälle damals nicht. Auch diesen düsteren Ereignissen forscht Sam mit Hilfe ihres Kollegen Fred nach. Aber sie hat nicht viel Zeit, denn das Geheimnis der Vergangenheit befindet sich im zum Abriss freigegebenen Heim St. Margaret's. Sam bleiben nur zwei Tage!

Man kann in dem Roman ebenfalls einen kleinen Frauen- und Liebesroman sehen, geht es doch um die vielen jungen Frauen, die in den Heimen ein hartes, unwürdiges Dasein fristeten. Es war ja kein Leben. Jeder Tag war ein Kampf ums Überleben. Seelische Grausamkeiten waren an der Tagesordnung, so durften sie nicht ihre Babys sehen und mussten immer das klägliche Schreien der Neugeborenen, die keine Geborgenheit erfahren haben, mit anhören. Ja, und wenn sich die Frauen nicht an die strengen Regeln der Einrichtung hielten, drohte man ihnen, dass man ihren Babys nichts mehr zu essen geben würde. Eine solches unmenschliches Verhalten ist unvorstellbar.

Und wenn man sich die zarten Annäherungsversuche von Fred und Sam anschaut, dann sieht man ebenfalls eine kleine Beziehungsgeschichte.

Der Roman hat grob zwei Zeitebenen – also Gegenwart und Vergangenheit. Während die Gegenwart sich an zwei Tagen im Februar 2017 abspielt, spielt die Vergangenheit von September 1956 bis ca. Dezember 1999.

Der Wechsel zwischen den Zeiten ist spannend aufgezogen. Werden in der Gegenwart Überlegungen/Andeutungen über vergangene Gegebenheiten genannt, wird im Folgekapitel, das immer ein konkretes in der Vergangenheit liegendes Datum nennt, das tatsächliche Geschehen oftmals atemberaubend und Gänshaut erzielend dargestellt. So erarbeitet man sich sich – wie es die Journalistin Sam auch tut – peu à peu an die grausame Wahrheit, die sich hinter den Mauern des Heimes abgespielt hat bzw. an die mit den Machenschaften der verschiedensten internen und externen involvierten Personen, heran. Es ist wie ein Puzzle und man macht sich selber wie ein Detektiv Gedanken, welche Überraschungen der Roman als nächstes auf Lager hat. Man ist somit nicht nur passiver sondern auch aktiver Leser. Und genau dieses ständige Grübeln und die gelegentliche Bestätigung mit seiner Vermutung richtig gelegen zu haben, macht das Lesen zu einem wahren Erlebnis. Ich habe nicht immer richtig gelegen, und somit sind diese überraschenden Wendungen ein große „Wow-Effekt“.

Mir hat das Buch extrem gut gefallen. Es hat einen flüssigen, gut zu lesenden Schreibstil und ist spannend von vorne bis hinten. Ich hatte keine Durststrecke und auch nicht das Gefühl, dass die Story in die Länge gezogen wird. Die Charaktere sind gut und authentisch herausgearbeitet und man kann sich gut in sämtliche Protagonisten hineinversetzen. Die Darstellung dieser Mutter-Kind-Heime und wie die Nonnen die in ihrer Obhut befindenden Frauen behandeln – bzw. misshandeln – ist ergreifend und extrem fesselnd dargestellt. Emily Gunnis hat es geschafft mit kriminalistischen Spürsinn ein sensibles und dunkles Thema der nahen Vergangenheit aufzugreifen und anhand der erfundenen Familiengeschichte Ivys darzustellen.

Es ist eine an die Nieren gehende und zu Tränen rührende Geschichte, die noch lange nachhallen wird und von mir die allerhöchste Leseempfehlung erhält. ✶✶✶✶✶