Rezension

Tiefer Einblick in Familienkonstellationen

Das Vorkommnis -

Das Vorkommnis
von Julia Schoch

Bewertet mit 4 Sternen

Intim, fragil, reflektierend. Schrittweise Annäherung an die eigene Sicht auf Familie.

Als eine besondere Stärke des autofiktionalen Erzählens erlebe ich es häufig, dass man als Leserin besonders intensiv in die Gefühlswelt der Erzählperspektive hineingezogen wird. So auch hier. Das titelgebende "Vorkommnis" geschieht bereits auf der ersten Seite: Die Erzählerin begegnet auf einer Lesung zu ihrem eigenen Buch einer Frau, die behauptet, denselben Vater wie die Protagonistin zu haben. Erst rückblickend erkennt die Erzählerin, wie dieser Moment sie geprägt hat: längst verschüttet geglaubte Familienthemen kommen zum Vorschein, Fragen nach Ehe und Mutterschaft drängen sich auf, Beziehungen werden beleuchtet und hinterfragt, die Kindheit in der DDR wird plötzlich wieder präsent.

Julia Schoch verbindet mit Leichtigkeit die Gegenwart der Erzählung mit den zurückliegenden Erinnerungen. Dabei hätte sie als Aufhänger für ihre Geschichte sicher auch ein anderes Ereignis wählen können - es geht nicht so sehr um Handlung und Spannungsbogen, das wirklich beeindruckende sind die vielen feinfühligen Beobachtungen menschlichen Verhaltens, die Art und Weise, wie es der Autorin gelingt, Gefühle in Worte zu fassen, die klugen Gedanken zur eigenen Positionierung in der Welt, in der Familie. Man bekommt ein starkes Gefühl dafür, wie die als stabil und harmonisch wahrgenommene Sicht auf das eigene Leben fast unmerklich ins Wanken gerät, wie sich eine Unsicherheit in ihre Wahrnehmung einschleicht, die sie erst mit etwas Abstand überhaupt reflektieren kann. An der ein oder anderen Stelle verliert sich der Fokus etwas, insgesamt aber sprachlich hervorragend und mit einem großen Output an klugen Gedanken. Auf die angekündigten zwei weiteren Teile dieser "Biographie einer Frau" bin ich sehr gespannt.