Rezension

Tiefgründig aber nur ein Ausschnitt

Tage ohne Hunger - Delphine De Vigan

Tage ohne Hunger
von Delphine de Vigan

Bewertet mit 4 Sternen

Nicht sterben, nur verschwinden

„Der zweifelnde Gesichtsausdruck scheint Pflicht zu sein. Das soll sie ruhig aushalten, es kann ihr nicht schaden, ihren verblüfften und mitleidigen Blick auf ihr kränkliches Aussehen zu ertragen – ein bisschen vernünftiger Realitätssinn, angemessen verpackt, der die Dinge wieder zurechtrückt.“

Inhalt

Laure hat sich seelisch und emotional komplett in sich zurückgezogen, menschliche Nähe lässt sie nicht mehr zu – warum auch? Es wird nicht mehr lange dauern, bis sie ihren Körper endgültig zum Schweigen, zum Verhungern gebracht hat, die Zwangseinweisung in das Krankenhaus mit künstlicher Ernährung über eine Magensonde ist eigentlich nicht das, was sie vorhatte. Doch Dr. Brunel begegnet ihr gerade noch im letzten möglichen Augenblick vor der Katastrophe und nimmt sich ihrer an. Er holt sie zurück aus dem Gedankenkarussel, bei dem jede Nahrungsaufnahme einem Verbrechen gleichkommt und jedes gewonnene Kilo ein schwerer Schicksalsschlag ist. Nun muss sie sich mit dem Gedanken arrangieren, dass sie erst wieder nach Hause kann, wenn sie die magische Gewichtsgrenze von 50 kg erreicht hat – doch bis dahin ist es ein weiter, beschwerlicher Weg …

Meinung

Bisher konnte mich jedes Buch der französischen Autorin Delphine de Vigan ansprechen, so dass ich beschlossen habe, mich den noch fehlenden Büchern in meiner Bibliothek zu widmen, um ihr Gesamtwerk kennenzulernen und die Thematik Magersucht kenne ich zudem noch aus eigener Perspektive, nachdem eine gute Freundin von mir in ihrer Jugend ebenfalls im Krankenhaus zwangsernährt wurde. 

In diesem Roman begibt sich der Leser tief hinein in das Gedankengut einer gestörten Seele, für die alles Schöne aus dem Leben verschwunden ist. Der Körper selbst hat keinen Wert mehr, er ist nur Ausdruck für das andauernde Verkümmern einer Seele und auch die Krankheit selbst hat kaum etwas mit einem angestrebten Schönheitsideal zu tun, denn es geht nicht um die Kilos an sich, sondern darum, die Kontrolle zu behalten und den Zeiger der Waage mittels Willenskraft immer weiter in die Knie zu zwingen. Was zunächst harmlos mit dem profanen Wunsch beginnt etwas weniger Gewicht zu haben, steigert sich in einen Wahn bei dem die Gesundheit ebenso wie die Schönheit schon lange auf der Strecke geblieben sind.

 Laure durchläuft nun in der Gegenwart nicht nur die Schmerzen, die mit einer erzwungenen Kalorienzufuhr verbunden sind, sondern auch das Dilemma, das ihr Körper voller Dankbarkeit annimmt, was ihre Seele schon längst aufgegeben hat, die Chance auf ein mehr an Kraft und Lebensqualität. Bisher wollte Laure zwar nicht wirklich sterben (als logische Konsequenz ihrer Anorexie wäre das zwar denkbar, es gibt aber deutlich effektivere Wege), nein sie möchte aus dieser Welt verschwinden, ganz langsam, ganz bewusst und deutlich sichtbar für alle anderen – weil sie nichts mehr hält, für das es sich zu leben lohnt. 

Erneut gelingt es der Autorin ein für mich erschütterndes Beispiel für vergeudete Lebenszeit greifbar werden zu lassen, die Ängste und Beklemmungszustände sind schonungslos, ehrlich und voller Traurigkeit. Dabei führt sie ganz allmählich die Ursachen aus dem familiären Umfeld ein, beurteilt nicht, warum es gerade dieser Leidensweg geworden ist und zeigt dennoch Möglichkeiten auf, aus dieser Endlosschleife an Hungern, Abnehmen und Verfallen herauszukommen, wenn man den Strohhalm ergreift, der sich bietet. Ein kleiner Kritikpunkt für mich: der Krankenhausalltag steht hier zentral im Mittelpunkt, die innere Arbeit, die Laure noch leisten muss, um wirklich geheilt zu werden, wird ausgeklammert. Sicherlich findet der Umstand Erwähnung, dass eine Rückkehr zu alten Verhaltensmustern nicht ausgeschlossen ist, und für Laure der Vorsatz zählt, ihr Versprechen nicht zu brechen, was sie Dr.Brunel gegeben hat: am Leben zu bleiben. Aber es hätte mir noch besser gefallen, wenn auch die Zeit danach mehr Aufmerksamkeit bekommen hätte. Selbst wenn das Ende des Buches einen erfreulichen Punkt benennt, so schenkt der Roman keine Einblicke in diese Zeit danach.

Fazit

Ich vergebe gute 4 Lesesterne, für einen interessanten, innigen Blickwinkel hinein in die Untiefen der menschlichen Seele, die doch so verschiedenartige Krankheitsbilder hervorrufen können. Ich weiß nicht, ob sich diese Lektüre wirklich für Betroffene eignet, für Außenstehende aber durchaus, denn die Ängste und Bedenken sind bestens greifbar und vielseitig gestrickt, so dass man nicht im Mitleid versinkt aber durchaus nachvollziehen kann, welche Mechanismen hier wirken. Was bleibt ist diese Bedrückung und innere Verzagtheit, aber auch die Hoffnung gemeinsam mit Hilfe von außen die Dämonen zu besiegen. Vielleicht hätte ich mir auch gewünscht, dass irgendwo sichtbar wird, wie viel Last dem Körper zugemutet wird, wie schwerwiegend und irreparabel manche Spätfolgen der Magersucht sind und das es nur wenig bringt, die Wochen im Krankenhaus zu überstehen, wenn man den Ursachen nicht mittels einer Therapie begegnet. Meine Freundin hat sich nie mehr von der Krankheit richtig erholen können, trotz zweier Kinder ist sie selbst mit 34 Jahren an multiplem Organversagen gestorben und rein äußerlich hat sie es nie mehr auf ein gesundes Normalgewicht gebracht.