Rezension

Tierische Machtübernahme

Die Kakerlake - Ian McEwan

Die Kakerlake
von Ian McEwan

Bewertet mit 3 Sternen

Noch vor wenigen Stunden war sie unter unzähligen Artgenossen hinter der Vertäfelung im Westminster Palace. Nun findet sich die Kakerlake im Körper des britischen Premierministers Jim Sams wieder – und zwar in dessen Bett im obersten Stockwerk der Londoner Downing Street Number 10. Von einem gehassten oder bestenfalls ignorierten Insekt hat sie sich in den mächtigsten Politiker Großbritanniens verwandelt, und das nicht ohne Grund: Zusammen mit einigen anderen ihrer Art hat sie eine ebenso wichtige wie geheime Mission. Die Kakerlaken haben das Ziel, den Willen des Volkes durchzusetzen – um jeden Preis.

„Die Kakerlake“ von Ian McEwan wird vom Verlag als Roman, vom Autor als Novelle bezeichnet.

Meine Meinung:
Unterteilt ist die Geschichte in vier Kapitel, die wiederum aus mehreren längeren Absätzen bestehen. Erzählt wird in meist chronologischer Abfolge aus der Perspektive der Kakerlake, die den Körper von Jim Sams übernommen hat. Dieser Aufbau funktioniert gut.

Das Werk ist – wie vom Autor gewohnt – in einer gehobenen, pointierten Sprache verfasst und dennoch gut verständlich. Den Einstieg empfinde ich als sehr gelungen, danach fällt die Geschichte aber etwas ab.

Interessant finde ich die Idee, Kafkas „Verwandlung“ umzudrehen und ein Insekt in einen Menschen zu stecken. In Jim Sams finden sich Eigenschaften und Eigenheiten von Theresa May und Boris Johnson vereinigt. Auch die übrigen Kakerlaken weisen Ähnlichkeiten mit anderen Figuren der britischen Politik auf. So originell die Protagonisten der Geschichte sind, so wenig erschließt es sich, wie es den Insekten glücken kann, in so kurzer Zeit so problemlos in die Rolle von Menschen zu schlüpfen. Eine absolute Realitätsnähe erwarte ich bei einem solchen Szenario nicht. Dennoch hapert es in punkto Rollentausch in der Geschichte an der Nachvollziehbarkeit und Logik.

Sehr kreativ ist auch das Übertragen des Brexit-Themas auf ein neues Wirtschaftssystem, den Reversalismus. Die recht abstrus anmutende Idee des umgekehrten Geldflusses verfügt über eine Menge Potenzial, das jedoch leider nicht ganz ausgeschöpft wird. An einigen Stellen hinkt die Analogie. Zudem erfordert dieser Einfall einige Erklärungen, die auf den nur rund 130 Seiten viel Raum einnehmen und für Langatmigkeit sorgen. Letztere entsteht auch dadurch, dass der Humor insgesamt zu kurz kommt.

Aufgrund der aktuellen Thematik rund um die Geschehnisse im Vereinigten Königreich war ich sehr auf das Buch gespannt. Aus der Tatsache, dass er die Abspaltung von der EU – in meinen Augen absolut berechtigt – für einen großen Fehler hält, macht Ian McEwan seit Längerem kein Geheimnis. Leider ist die ganze Geschichte jedoch recht durchschaubar und weniger pfiffig als erhofft. Viele Parallelen sind mehr als offensichtlich. Die Kritik am Brexit scheint nicht nur subtil durch, sondern schreit dem Leser förmlich ins Gesicht, auch ohne dass dieses Wort nur einmal fällt. Viel Nachdenken wird bei der Lektüre nicht verlangt. Das Ganze erscheint recht plakativ. Auch die Auflösung, weshalb die Kakerlaken den Reversalismus umsetzen möchten, ist schnell klar. Einige lose Enden werden gar nicht weiterverfolgt, Widersprüche und Unklarheiten in Kauf genommen. So ergibt sich insgesamt der Eindruck, dass die Geschichte mit viel Frust und in Eile geschrieben wurde und daher in Teilen eher plump und unausgegoren bleibt.

Das deutsche Cover, mit dem der Verlag seinem Stil treubleibt, gefällt mir sehr gut. Gelungen ist auch der einprägsame, knappe und sehr treffende Titel, der sich am englischsprachigen Original orientiert („The cockroach“).

Mein Fazit:
In „Die Kakerlake“ von Ian McEwan steckt eine Menge kreatives Potenzial, das jedoch nicht in Gänze ausgeschöpft wird. Dass der Autor wegen der aktuellen politischen Entwicklungen unter großem Zeitdruck geschrieben hat, ist einleuchtend. Mit seiner Novelle, die etliche Schwächen offenbart und ich deshalb nur eingeschränkt empfehlen kann, bleibt er allerdings hinter meinen Erwartungen zurück.