Rezension

Tod, Krieg und die eigene Familiengeschichte ...

Um uns die Toten - Bartholomäus Grill

Um uns die Toten
von Bartholomäus Grill

Bewertet mit 4.5 Sternen

An den Tod seines Großvaters Bartholomäus erinnert sich Bartholomäus Grill so genau, weil die Ereignisse in der Familie immer wieder erzählt und dabei sicher auch ausgeschmückt wurden. Auf dem Bergbauernhof der Großeltern wurde damals der Verstorbene noch in der guten Stube aufgebahrt. Das Brauchtum im streng katholischen Alpenland gibt den Hinterbliebenen Rückhalt; der Tod kommt wie ein Vertrauter ins Haus. Doch das Sterben der schwerbehinderten Schwester des Autors offenbart, dass die Verwurzelung im Glauben ihres unerschütterlichen katholischen Kosmos Grills Eltern keinen Halt zu bieten hat. So wie die Familie verschämt über die psychische Erkrankung und den Selbstmord des Großonkels schwieg, wird nun die Existenz der behinderten Tochter verschwiegen. Der Vater verweigert eine Inschrift auf dem Familiengrabstein, die Mutter hat sich zu fügen. Grill beschreibt sich als ein Kind, das in einer bilderarmen Umgebung von der bildlichen Darstellung der Madonnen, Kruzifixe, Lüftlmalereien und der Abbildung eines personifizierten Todes geprägt wurde. Der „Boandelkramer“ war auf dem Bergbauernhof der Grills so gegenwärtig wie die Drohung der Großeltern gegenüber einem aufsässigen Kind, nach ihrem Tod zurückzukehren und es zu sich zu holen. Als Jugendlicher sieht sich Grill mit dem Selbstmord Gleichaltriger konfrontiert und springt nach waghalsigen Versuchen mit Drogen selbst dem Tod erst in letzter Minute von der Schippe. Seine Tätigkeit als Afrika-Korrespondent konfrontiert ihn mit Krieg, Völkermord, Hungersnöten und schließlich der Ausrottung einer ganzen Generation durch die Auswirkungen des HIV-Virus. Auf die Globalisierung und Anonymisierung des Todes angesichts des Massensterbens in Afrika ist Grill so wenig vorbereitet wie seine Familie auf die Todesfälle, die sie persönlich treffen.

Grill, der für ZEIT und STERN mehr als 20 Jahre aus Afrika berichtete, erfüllt mit seinem Buch über den Tod eine Verpflichtung gegenüber seinem jüngeren Bruder, der sein Leben aufgrund einer unheilbaren Krebserkrankung durch „assistierten Freitod“ selbst beendet. Die Reportage über das Sterben seines Bruders bringt Grill 2006 den Egon-Erwin-Kisch-Preis ein und konfrontiert ihn unmittelbar danach mit dem von einer Person nicht zu bewältigenden Bedürfnis seiner Leser nach Hilfe und Aussprache.

Grills Buch einen Platz im Koordinatensystem des Buchmarktes zu geben, fällt mir noch immer schwer. Es ist eine sehr persönliche Bilanz mit dem spürbaren Anliegen, dem Thema Sterbehilfe einen angemessenen Platz zu schaffen. Grill selbst nennt seinen Text eine Zwiesprache mit dem Tod. Er ist in einem Lebensalter angelangt, in dem „die Einschläge näher kommen“, der Tod seiner Altersgenossen ihn ständig mit der eigenen Endlichkeit konfrontiert. Mit dem Sterben in Auschwitz und dem RAF-Terrorismus deutet Grill jedoch auch auf die speziell deutsche Sprachlosigkeit zwischen seiner in den 50ern geborenen Generation und der seiner Eltern. „Um uns die Toten“ ist die vom Thema Sterbehilfe getragene, dicht geschriebene Lebensbilanz eines Journalisten, die ich besonders jenen empfehle, die sich für eine Patientenverfügung noch viel zu jung fühlen.