Rezension

Tolle Geschichte

Der Distelfink
von Donna Tartt

Bewertet mit 4 Sternen

Amsterdam. Theo Decker wartet in einem Hotelzimmer. Es ist etwas Schreckliches passiert und sein Hirn wandert 14 Jahre zurück. In jene Tage, die seinem Leben den Stempel aufgedrückt haben. Als er dreizehn ist besucht er mit seiner Mutter in New York eine Kunstausstellung. Eine Bombe explodiert und seine geliebte Mutter existiert von nun an nur noch in seinen Erinnerungen. Bevor sich Theo aus den Trümmern befreit macht er eine sonderbare Bekanntschaft mit einem schwerverletzten älteren Herrn namens Welty, der ihn um etwas bittet. Theo nimmt eines der Ausstellungsstücke an sich. Das Bild „Der Distelfink“, auf dem ein auf ewig gefangener Vogel abgebildet ist. Von nun an fühlt sich Theo allein auf der Welt, verlassen vom alkoholkranken Vater, der nach Las Vegas abgehauen ist und den Erwachsenen, die ihn hin und herschieben, wie ein übrig gebliebenes Möbelstück. Die wohlhabenden Barbours kümmern sich um ihn, doch scheinen sie ganz froh zu sein ihn wieder loszuwerden nachdem der versoffene Vater in New York auftaucht, um den Jungen zu sich zu nehmen und etwas Geld einzusacken. Dabei hatte es in der Stadt jemanden gegeben, der dem jungen Burschen mit Anständigkeit gegenübertrat, den alten Hobie, einem Geschäftspartner von Welty. Und besser noch, es gibt da dieses rothaarige Mädchen, das mit Welty auf der Kunstaustellung gewesen ist.

So beginnt „Der Distelfink“ von Donna Tartt, einem satte 1000 Seiten langem Buch, das etwas ganz erstaunliches Zuwege bringt, nämlich bis auf wenige zu ausufernde Passagen im Drogenmilieu die Leserschaft bei der Stange zu halten, ja, sie in den Bann zu ziehen. Was einem außergewöhnlichen Schreibstil liegt. Wie zart sie mit ihrem Theo umgeht, als dieser darauf wartet ein Lebenszeichen von seiner Mutter zu erhalten. Wie sie die oberflächlichste Stadt des Planeten, Las Vegas aus der Wüste der Geldgier vor den Augen der Leser auferstehen lässt ist einfach grandios. Zusammen mit seinen Freund Boris, einem Jungen der schon in einem Dutzend Länder gewohnt hat begibt sich Theo auf einen Drogentrip nach dem nächsten. Den Distelfink immer in Reichweite. Von dem teuren Bild kann er sich einfach nicht trennen, es verbindet ihn mit seiner Mutter und der Vergangenheit.

Nach einiger Zeit strandet er erneut in New York, der Stadt seiner Trauer und steigt über die Jahre zu Hobies Geschäftspartner auf. Theo versucht ein normales Leben anzupeilen, bis die aufgebaute Fassade durch den Distelfink ins Wanken gerät. Der klug durchdachte Entwicklungsroman läuft auf ein Krimi Ende zu. Eine Tatsache, die meiner Meinung nach dem Buch an Tiefenschärfe nimmt und den Schluss in Allgemeinplätzen absaufen lässt. Aber im Grunde ist das nebensächlich. Weil alles andere an Perfektion grenzt und an beste amerikanische Erzähltradition erinnert.

Besonders imponiert hat mir, wie die Autorin diesen traumatisierten Protagonisten mit seiner ganzen Verletzlichkeit, seinem Minderwertigkeitskomplex, der Verlorenheit eines früh verlassenen in seiner Tragik und Lächerlichkeit zeigt und ihm eine Würde gibt, wie sie jeder Mensch verdient hat. Der Roman hat mich zwar nicht restlos begeistern können, aber ehrfürchtig gemacht.