Rezension

Toller Jugendbuch-Klassiker

Lieber Daddy-Long-Legs - Jean Webster

Lieber Daddy-Long-Legs
von Jean Webster

Bewertet mit 4.5 Sternen

"PS: Würde es Ihnen schrecklich missfallen, Daddy wenn aus mir doch keine große Autorin wird, sondern bloß ein schlichtes Mädchen?" S.105

Es ist schon eine Weile her, seit ich konkret und gezielt zu einem Jugendbuch gegriffen habe. Aber das neue Programm der 'Königskinder', dem Imprint des Carlsen Verlags, hat es mir einfach angetan.
Zudem fand ich es durchaus verlockend, dass "Lieber Daddy-Long-Legs" bereits 1912 von Jean Webster veröffentlicht wurde. Tatsächlich merkt man der Geschichte den 'alten Stil' auch an, was ich wunderbar passend fand. Der Stil verschmilzt nämlich mit der Art der Erzählung, da der Leser nur durch die Briefe der jungen Protagonistin Jerusha (Judy) Abbott erfährt, welche Entwicklungen die Figuren durchleben und welche Geheimnisse gelüftet werden. Diese Briefe passen sich dadurch an ein anderes Jahrhundert an, weil auch die Zeit der Zustellung der schriftlichen Korrespondenz durchaus eine Rolle spielt und man so wirklich das Gefühl bekommt, als sei man mit Judy in ihrer Zeit und man nicht 'eben schnell' eine E-Mail schreibt, sondern durchaus Tage auf eine Antwort warten muss (sei es auch nur vom Assistenten von 'Daddy-Long-Legs').
Judy selbst ist ein wunderbar vielseitiger und lebhafter Charakter. Ich bin mir sicher, dass ich sie, wenn ich das Buch als Jugendliche gelesen hätte, sicherlich noch mehr gemocht hätte. Denn sie verkörpert alles, was man so in seiner Jugend durchlebt. Die tiefsten Wünsche und Träume die man hegt, die Reiselust die einen packt, das ambitionierte Streben nach einem schulischen und beruflichen Erfolg und aber auch die Dinge, die einen manchmal runterziehen, die Misserfolge, das Wideraufstehen nach dem Hinfallen. Sie ist so sprunghaft, so wechselbar und dennoch irgendwie standhaft in ihren Ansichten, dass sie nicht nur ein bloßes Schema eines 'Teenagers' darstellt, sondern die tatsächlichen Verhaltensweisen widerspiegelt.
Man ist nämlich launisch und weiß nicht immer, was man will. Manchmal scheint man auch nervig oder zu verbissen, manchmal wächst einem alles über den Kopf, manchmal missfallen einem die Verhaltensweisen der anderen Menschen, manchmal wird man ihnen gegenüber auch grob. Aber letztendlich besinnt man sich wieder auf das, was einem wirklich wichtig scheint. Und genau das habe ich in diesem Buch auch wiedergefunden. Diese jugendliche Euphorie und zeitweise jugendliche Frage, nach dem eigenen Platz in der Welt haben das Buch für mich wirklich zu einem sehr schönen Leseerlebnis gemacht.

"Ich finde, jeder Mensch, wie viele Kümmernisse er auch erleiden muss, sollte dennoch auf eine glückliche Kindheit zurückblicken können. und falls ich jemals Kinder habe, werde ich - selbst wenn ich zutiefst unglücklich bin -  nicht zulassen, dass sie irgendwelche Sorgen haben, bis sie groß geworden sind."  S.132
 

Das Buch verfolgt natürlich nicht nur die Absicht die charakterliche Entwicklung der Protagonistin aufzuzeigen, auch wenn dies einer der markanten Punkte ist, sondern treibt auch eine Handlung voran.
Man verbringt die Zeit mit Judy in abenteuerlichen Semesterferien, zum Beispiel im aufregenden New York, man lernt das Schulsystem der damaligen Zeit etwas besser kennen und man folgt ihr auf der Suche nach 'Daddy-Long-Legs'. Zugegeben, ab einem gewissen Zeitpunkt lüftet sich das Geheimnis fast wie von selbst, was aber keineswegs einen negatives Kriterium darstellt. Die Offenbarung des mysteriösen Mannes schien für mich eigentlich gut umgesetzt worden zu sein, mich hat zum Schluss allerdings etwas 'gestört', dass das Ende so kurz und vielleicht zu 'Jugendbuch-mäßig' unüberraschend endete. Tatsächlich rief ich mir aber wieder ins Gedächtnis, dass der Text schon vor längerer Zeit veröffentlicht wurde und man das Ende damals wohl nicht so kritisiert hätte, wie heute, weil man sich mittlerweile immer etwas 'Anderes' und Spannenderes wünscht.
Und schließlich muss ich auch zugeben, dass das Ende keinen Einfluss auf die sonst so schöne Botschaft der Geschichte hat.

"Wie manche Menschen immer die Augen zum Himmel verdrehen und >>Vielleicht ist alles zum Besten so << sagen, obwohl sie todsicher sind, dass das nicht stimmt, macht mich wütend. Ob man es nun Demut oder Ergebenheit oder sonst wie nennt, es ist schlicht ohnmächtige Trägheit." S. 220

INSGESAMT: Ein junges Mädchen, das sich durch ihr bisheriges Leben im Waisenhaus, einsam und nicht zugehörig fühlte und Schritt für Schritt lernt, dass man sich selbst vertrauen muss, um das zu erreichen, wovon man träumt. Ein wirklich wunderbarer Ratschlag für junge Heranwachsende und darum auch eines der Gründe, wieso dieses Jugendbuch zu empfehlen ist. Auch wenn die Protagonistin manchmal etwas zu 'schwankend' oder zu 'emotional wechselhaft' wirkt, ist dies letztlich der Grund, wieso diese Geschichte so wunderbar funktioniert. Weil man in dieser Zeit seines Lebens wirklich so reagiert und seine Gefühle kaum zurückhalten kann. Die Atmosphäre des frühen 20. Jahrhunderts sorgt zudem dafür, dass die 'Abenteuer' der Protagonistin noch wilder erscheinen und man sich gerne mit ihr in ihrem Wohnheim an der Universität befinden würde.