Rezension

Tolles Jugendbuch

Stadt der Diebe - David Benioff

Stadt der Diebe
von David Benioff

Bewertet mit 5 Sternen

Inhalt: David Benioff erzählt die Geschichte aus zwei Perspektiven: Wir begegnen im ersten Kapitel dem Protagonisten David, der Autor ist und dringend eine Idee für eine neue Geschichte braucht. Da besucht er seine Großeltern, die den zweiten Weltkrieg miterlebten. Am Ende des Kapitels bekommen wir den Eindruck, dass David in Stadt der Diebe die Geschichte seines Großvaters erzählt. 

Ab dem zweiten Kapitel wird die zweite Perspektive der Geschichte eingeläutet: Hier begegnen wir dem 17-jährigen Lew, der aufgrund einer Verkettung unglücklicher Umstände verhaftet wird. So lernt er Kolja, einen extrovertierten, lebendigen Mann kennen, der nicht nur ein wahrer Frauenversteher ist, sondern auch ein echter Überlebenskünstler mit einer ausgeprägten Liebe zur Literatur. So zitiert er immer wieder aus seinem Lieblingswerk Der Hofhund und ist begeistert, als er erfährt, dass Lews Vater Schriftsteller war. 

Beide Männer bekommen von einem Oberst ein verlockendes Angebot: Sie haben eine Woche Zeit, ein Dutzend Eier für eine Hochzeitstorte aufzutreiben. Wenn sie das schaffen, werden beide von allen Anklagepunkten freigesprochen. 

Was mir an der Geschichte besonders gut gefällt, ist die Geschichte in der Geschichte: Zu Beginn bekommen wir noch den Eindruck, dass es sich hier um eine Handlung mit einem biografischen Hintergrund handeln könnte. Zudem taucht auch im Handlungsstrang von Lew und Kolja immer wieder der Name Benioff auf, was den Eindruck noch verstärkt. Und diese Idee, egal, ob sie jetzt der Wahrheit entspricht, oder nicht, wurde hier sehr gut umgesetzt. 

David Benioff entwirft hier einen Roadtrip anderer Art. So müssen Lew und Kolja jede Menge Wagnisse eingehen, um an ein Dutzend Eier zu kommen. Und als ihre Lage aussichtslos scheint, tut sich doch überraschend eine Möglichkeit auf, die ihnen Hoffnung gibt. 

Beide Protagonisten können nicht unterschiedlicher sein: Lew ist introvertiert. Er ist hin- und her gerissen zwischen dem Wunsch, das große Abenteuer zu finden und bloß nicht negativ auffallen zu wollen. Und da zwingt ihn das Schicksal mit dem extrovertierten Kolja im Team zu spielen. Einem Mann, der es gar nicht schaffen kann, nicht aufzufallen. Kolja geht offen auf Menschen zu und hat keinerlei Berührungsängste. Er weiß, was er will und versteht sich gut darauf, seinen Willen auf eine liebevolle, diebische Art durchzusetzen. Und er hat Gefallen an Lew gefunden und beschließt den schüchternen Jungen unter seine Fittiche zu nehmen. 

Das Schöne ist, dass Stadt der Diebe nicht nur aufgrund der grundverschiedenen Charaktere lebt, sondern diese beiden Männer, die unterschiedliche Ziele verfolgen auch noch in abstrusen Situationen landen, aus denen sie sich irgendwie befreien müssen. Es ist also wichtig, dass sie zusammenarbeiten. 

Und hier lässt sich sehr gut beobachten, wie man eine spannende Geschichte aufbauen kann: Man braucht nicht nur einen inneren Konflikt, also die Zerrissenheit der Protagonisten, sondern auch noch einen äußeren Konflikt, in diesem Fall die Suche nach einem Dutzend Eiern in einem Land, in dem die Menschen seit Monaten hungern. Also ein äußerer Konflikt, der schon zum Scheitern verurteilt ist. Oder? 

Wenn ich nach meinen Lieblingsgeschichten gefragt werde, ist Stadt der Diebe immer eine der Geschichten, die hier zu meinen Standardantworten gehören. Ich mag die Verbindung zwischen den gegensätzlichen Charakteren und der Handlung. Obwohl Stadt der Diebe während des zweiten Weltkrieges spielt, schafft es David Benioff etwas Leichtigkeit in die Geschichte zu bringen, ohne, die Ereignisse während des Krieges zu verharmlosen. 

Kommen wir nun zur Gestaltung des Hörbuches: Obwohl mir die Geschichte so gut gefällt, hatte ich überhaupt keine Vorstellung, wie das Hörbuch dazu aussehen könnte. Zu Beginn war ich etwas enttäuscht, dass Stadt der Diebe nur als gekürztes Hörbuch produziert worden ist. Dennoch glaube ich nicht, dass viel vom Inhalt weggelassen wurde und vermute eher, dass sich die Kürzungen auf die Streichung der Nebensätze bezogen haben. Was diesen Eindruck verstärkt hat, war die Seitenzahl der Printausgabe im Vergleich zur Laufzeit des Hörbuches. Da die Geschichte eine Laufzeit von etwa sieben Stunden hat und die Printausgabe um die 350 Seiten enthält schien mir hier das Verhältnis ziemlich ausgeglichen zu sein. Die Streichung der Nebensätze ist eine Sache, die der oder die Hörbuchsprecher*in bei einem Hörbuch gut ausgleichen kann. Deswegen bin ich da etwas nachsichtiger und ziehe für die Kürzungen keine Punkte bei der Bewertung ab.

Stadt der Diebe wird von Heikko Deutschmann gelesen. Und das hat mich ziemlich verwirrt. Ich bin dem Hörbuchsprecher nämlich das erste Mal bei Ein Mann namens Ove begegnet und dort interpretiert er einen Rentner. Hier hingegen darf er in die Rolle von zwei jungen Männern schlüpfen und da hätte ich vermutet, dass man einen Hörbuchsprecher engagiert, der auch jünger klingt. 

Doch schon nach wenigen Minuten wurde mir bewusst, das Heikko Deutschmann der Geschichte gerecht wird. In Stadt der Diebe gibt es viele Momente, die zeigen, dass unsere Protagonisten, eine Art Reife mitbringen, obwohl sie noch nicht sehr alt sind. Ich glaube nicht, dass Hörbuchsprecher mit einer jüngeren Stimme an der Interpretation von Stadt der Diebe gescheitert wären. Aber ich bin mir auch nicht sicher, ob eine Lesung mit einem anderen Sprecher authentisch geklungen hätte. Es ist schwer, diese Zeilen zu begründen, da ich damit nicht zum Ausdruck bringen will, dass Sprecher mit einer jüngeren Stimme auch gleichzeitig über weniger Können verfügen. Ich hoffe, es wird deutlich, was ich meine. 

Heikko Deutschmann konnte die Atmosphäre der Geschichte sehr gut aufgreifen und hat es geschafft unsere Charaktere lebendig werden zu lassen. Besonders gefiel mir seine Interpretation der Dialoge zwischen Lew und Kolja, weil hier die Gegensätzlichkeit der beiden Charaktere zum Vorschein kommt. 

David Benioffs Schreibstil hat es mir ebenfalls angetan. Er erzählt die Geschichte aus der Perspektive von Lew. Und es wird schnell deutlich, dass Lew seine Unsicherheiten durch ein kühles Verhalten zu verstecken sucht. 

David Benioff findet in Stadt der Diebe die richtige Mischung zwischen historisch wichtigen Inhalten, der Interaktion von unseren beiden Protagonisten und der Handlung. Ich hatte an keiner Stelle das Gefühl, dass es langatmige Stellen gab und die Handlung nicht voran kommt. Wenn es in der Handlung ruhiger wurde, spielte sich etwas Wichtiges zwischen unseren Protagonisten ab und so verhielt es sich auch umgekehrt. 

Besonders mochte ich die Dialoge zwischen Kolja und Lew oder Kolja und anderen Charakteren der Geschichte. Kolja lässt sich zu Aussagen hinreißen, die nicht gefährlicher sein könnten. Doch er ignoriert es und sagt einfach das, was er denkt. 

Gesamteindruck: Stadt der Diebe ist eine der wenigen Geschichten, die auch für Jungs geeignet sind. Da unsere Protagonisten hier eben auch Jungen sind, werden Themen aufgegriffen, die Jungen bewegen wie beispielsweise, wie man eine Frau für sich gewinnt. Und gerade diese Frage wird in Stadt der Diebe sehr ausführlich diskutiert. 

Da es sich bei Stadt der Diebe um ein Re-Read handelt, war ich gespannt, wie viel ich noch von der Geschichte wusste. Und ich musste entsetzt feststellen, dass ich die Einzelheiten der Handlung wieder vergessen hatte. Deswegen habe ich es sehr genossen noch einmal mit Lew und Kolja nach Leningrad reisen zu dürfen.