Rezension

Tolles, originelles Jugendbuch mit aktuellen Bezügen

Nicu & Jess - Sarah Crossan, Brian Conaghan

Nicu & Jess
von Sarah Crossan Brian Conaghan

Bewertet mit 5 Sternen

Wenn man einen Stiefvater hat, der die eigene Mutter regelmäßig grün und blau prügelt, steht man nicht gerade auf der Sonnenseite des Lebens. So wie Jess, die ihre Probleme mit Diebestouren und Zigaretten kompensiert. Ziemlich schattig ist das Leben auch, wenn man in einem Land lebt, dessen Sprache man nicht beherrscht. Wenn man jeden Tag und jede Minute spürt, dass man unerwünscht ist und noch dazu bald zwangsverheiratet werden soll. Das ist die Realität von Nicu, ein Roma-Junge in Großbritannien nach dem Brexit. Als Jess und Nicu sich treffen, prallen Welten aufeinander, die unterschiedlicher nicht sein könnten und doch werden beide voneinander angezogen wie Planeten im Weltall.

Mir hat dieses Buch unglaublich gut gefallen. Die Prämisse ist sofort präsent, der Erzählstil so originell und bündig, dass bei mir umgehend das Kopfkino ansprang. "Nicu & Jess" ist in Versform verfasst, allerdings ohne Reimschema - es liest sich wie aus einem Guss und ist eine moderne Romeo-und-Julia-Variante. Nur geht es hier nicht um zwei verfeindete Familien, sondern um verschiedene Kulturen und viel soziale Brisanz.

Sarah Crossan und Brian Conaghan sensibilisieren eindringlich für Menschen, die in unserer Gesellschaft hinten rüber fallen, ein Umstand der sich vor dem Hintergrund großer Flüchtlingswellen nochmal drastisch verschärft. In dem harten Milieu, in dem Nicu und Jess leben, werden Außenseiter gemobbt, Cliquen, Gangs, familiäre Zwänge und Gewalt gehören zum Alltag. Die Infrastruktur des sozialen Netzes kommt nicht gut weg, wirkt vollkommen realitätsfremd. Nicu ist auf sich alleine gestellt. Aber auch Jess, die in England geboren und mit der Kultur vertraut ist, fällt durch die Löcher des Systems. Wie sich diese beiden verlorenen Teenager langsam annähern und dabei viel einstecken müssen, davon erzählt die Geschichte berührend schön, aber auch heftig berührend. Oft hatte ich einen dicken Kloß im Hals. 

Dass sich die Ereignisse gleichzeitig tragisch und locker lesen, liegt am unverblümten, authentischen Ton der beiden Protagonisten. Der Kontrast zwischen der nach außen hin coolen Jess und dem sensiblen Nicu hat einen ganz eigenen Rhythmus. Nicus radebrechenden Passagen haben mich anfangs irritiert, später dann regelrecht verzaubert. Wenn er Dinge falsch versteht und im verkehrten Kontext antwortet, ist das abwechselnd amüsant und ergreifend. Mit seinem beschränkten Sprachschatz kreiert Nicu wundervolle Wortbilder, die fast schon poetisch sind.

"Und ich träumen von dir letzte Nacht,
aber meine Augen nicht schließen für schlafen,
und es regnet in meine Magen
und es stürmt in meine Herz." (S. 200)

Trotz oder gerade wegen des luftig gesetzten, komprimierten Textes hat man das Gefühl, unverhältnismäßig viel Inhalt zu bekommen. Nicht zuletzt dank der genialen Übersetzung wirkt die Geschichte an keiner Stelle künstlich-gestelzt. Wenn das irisch/schottische Autorenduo irgendwann beschließen sollte, eine Fortsetzung zu schreiben, würden sie mir damit einen großen Wunsch erfüllen. Der Schluss ist offen und sehr dramatisch, wie es sich für einen von Shakespeare inspirierten Text gehört. Aber mein Herz wünscht sich sehnsüchtig ein anderes Ende.

Fazit: Ein Jahreshighlight für mich! Wenig Text, viel Inhalt, wichtige Themen, die eindringlich, fesselnd und kreativ umgesetzt worden sind und mich von der ersten bis zur letzten Seite für "Nicu & Jess" haben brennen lassen. Meiner Meinung nach eignet sich dieses Buch auch wunderbar für den Schulunterricht, denn es passt perfekt in die Zeit, ist sprachlich bemerkenswert und einfach ein sehr besonderes Stück Jugendliteratur.