Rezension

Totenlied für eine Lebende

Miroloi - Karen Köhler

Miroloi
von Karen Köhler

Ein Miroloi ist ein Totenlied; in ihm wird das ganze Leben des Verstorbenen nacherzählt und so sein Leben und seine Person in Erinnerung gerufen und gewürdigt. Der sechzehnjährigen namenlosen Erzählerin wird niemand ein Totenlied singen: Sie ist ein Findelkind, hat keine Familie und steht außerhalb der Dorfgemeinschaft. Sie darf keinen Besitz haben, erhält noch nicht einmal einen Namen, wird beschimpft, verachtet, misshandelt. Damit steht sie auf der untersten Stufe der Hierarchie, in die das Dorf klar gegliedert ist: Ganz oben der Ältestenrat von dreizehn Männern und der Bethaus-Vater, die im "Schönen Dorf" das Sagen haben. Das Dorf liegt isoliert auf einer kleinen Insel. Zwar gibt es einen Hafen, auf dem hin und wieder ein Handelsschiff anlegt, doch der Weg dorthin wird bewacht, und die Ältesten entscheiden, welche Waren des Händlers überhaupt akzeptiert werden. Frauen sind den Männern untertan, und sie haben nur wenig Rechte; sie dürfen noch nicht einmal Lesen und Schreiben lernen. Diese Situation spitzt sich noch weiter zu, und die Erzählerin, die kaum noch etwas zu verlieren hat, wagt die Auflehnung...

Die Gesellschaft, die hier beschrieben wird, entspricht einer totalen Institution, wie sie Goffman beschreibt. Macht und ihr Missbrauch, Unterdrückung der Frauen und Religion als Instrument sind anspruchsvolle Themen. Mit der jungen Frau hat Karen Köhler eine Protagonistin geschaffen, die glaubwürdig ist. Mit ihr kann ich mitfühlen und sie auch bewundern, denn ob ich diese Stärke entwickeln könnte, ist nicht sicher. Dazu verhilft ihr sicherlich nicht nur die geheim angeeignete Bildung, sondern auch die Liebe, die sie vom Bethaus-Vater und die alte Mariah erfährt, die sie wie Pflegeeltern behandeln. Die Freundschaft zu einer anderen Frau lässt sie einen ersten Schritt in die Gemeinschaft tun. Und dann gibt es ja noch die geheime und verbotene Beziehung zu einem Betmann-Schüler... Den langsamen Aufbau erster kritischer Fragen, die Entwicklung persönlicher Charakterstärken und das endlich daraus resultierende Handeln finde ich folgerichtig dargestellt.

Kritiker werfen Köhler vor, zu viel in dieses Buch hineinzupacken. Religionskritik wird ihr vorgeworfen; dabei ist die dargestellte Religion keine unserer Weltreligionen, sondern eine Mischung daraus - und das Problem beginnt dort, wo diese Religion missbraucht wird, wo das "heilige Buch" umgeschrieben wird, um den Machtanspruch der Männer zu untermauern. Der Feminismus und die unausgesprochene Aufforderung zur Emanzipation wird teils als übertrieben empfunden, teils als nicht innovativ abgelehnt. Meines Erachtens muss es nicht innovativ sein - solange das Problem nicht gelöst ist, ist es noch aktuell, und das gilt. Es gibt Strukturen und Lebenswelten, die durchaus ähnlich sind. Hier in Deutschland sieht das anders aus, aber auch hier gibt es Benachteiligung - von Frauen, von Menschen, die von "außen" kommen, von Menschen, die nicht in das System passen. Da muss man etwas Übertragungsarbeit leisten, doch kann man das wohl kaum dem Buch anlasten. 

Das Buch steht auf der Nominierungsliste zum Deutschen Buchpreis. Und auch, wenn es vielen Lesern nicht gefallen hat: Mich hat es angesprochen und ich war fasziniert von diesem starken Charakter.