Rezension

Toxische Beziehungen, Gewalt, Bodyshaming - was die Teilhabe junger farbiger Frauen verhindert

Alles, was passiert ist - Yrsa Daley-Ward

Alles, was passiert ist
von Yrsa Daley-Ward

Bewertet mit 5 Sternen

Marcia aus Kingston/Jamaica wird mit 14 Jahren schwanger, zieht zu ihrer in England lebenden Mutter und wird schließlich Krankenschwester.   Samson, der Sohn, den sie damals zur Welt bringt,  ist inzwischen Soldat der Royal Army. Von einem ungewöhnlich großen, gut aussehenden Nigerianer bekommt sie die Tochter Yrsa, die hier ihre Geschichte erzählt. Inzwischen lebt Marcia mit Linford zusammen und hat einen weiteren Sohn, Little Roo. Von  zwei Jobs in zwei verschiedenen Krankenhäusern ständig erschöpft, gibt Marcia die beiden jüngeren Kinder zu ihren streng religiösen  Eltern nach Nord-England. Begründung dafür ist  nicht etwa ihr Nachtdienst, sondern Yrsas  frühe körperliche Entwicklung schon im Grundschulalter. Weil Linford nicht ihr leiblicher Vater sei, soll Yrsa sich vor ihm vorsehen, wird ihr eingeschärft. Weil Marcia ihre siebenjährige Tochter nicht mit ihrem gewalttätigen Lover allein lassen kann, müssen die Kinder aus dem Haus. Die Großeltern vertreten als strenggläubige Sieben-Tags-Adventisten eine lange Liste von Verboten. Fleisch, Kaffee, Tee, Schmuck, Halloween, Dinosaurier, Kino, Partys und einiges mehr betrachten sie als sündhaft. Ihre Bräuche haben die Großeltern aus Jamaica mitgebracht und setzen sie unverändert durch. Kein Wunder, dass Yrsa als einzige schwarze Schülerin ihrer Klasse mit diesen gelehrten Werten zur Außenseiterin und zum Mobbing-Opfer wird.  Marcias früher Versuch,  Yrsas Stolz auf ihre Herkunft und ihren klugen Vater zu wecken, scheint gescheitert zu sein. In einem Gewirr aus der religiös verbrämten Herablassung des Großvaters gegenüber Frauen,  der toxischen Beziehung Marcias zu einem gewalttätigen Mann, Bodyshaming unter Gleichaltrigen und Yrsas Schuldgefühlen geht sie in ihrer verzweifelten Identitätssuche verloren. Ihre Irrfahrt bildet auch ihre Erzählweise ab, sie vermeidet Marcia als Mutter zu bezeichnen und wechselt zwischen Ich- und Du-Perspektive. Je älter Yrsa wird, umso bedrohlicher wirken auf mich als Leser ihre psychosomatischen Beschwerden, die Suche nach der eigenen sexuellen Identität und Anzeichen einer schweren psychischen Erkrankung.  Beide Kinder fragen sich, ob sie wegen ihrer Hautfarbe nicht geliebt werden, Yrsa erträumt sich sogar ein leichteres Leben bei ihrem Vater in Nigeria.

Wer über Identitätssuche und mangelnde gesellschaftliche Teilhabe farbiger Mitbürger nachdenkt, findet hier ein dicht geknüpftes Netz an Ursachen. Vom fatalen Vorbild durch Yrsas Mutter, die ihre Kinder für Jahre fortschafft, anstatt ihren gewalttätigen Partner rauszuwerfen, über Yrsas  Körper, der ihr wie eine Waffe Macht über Männer gibt, bis zum Verkauf dieses Körpers auf mehreren Ebenen  wird alles geboten, das dem aufrechten Gang  junger „Persons of Color“ entgegensteht. Es ist nicht allein Yrsa als Frau, deren Psyche unter den geschilderten Verhältnissen zu Scherben fällt, Little Roo geht es kaum besser.

Am Ende des Buches besteht zwar die Hoffnung, dass das Mädchen von einst, die geschilderte Frau und die Autorin wieder zu einer Person verschmelzen – sicher bin ich mir jedoch nicht, dass das gelingen kann. Als eindringliche „eigene Stimme“ einer Betroffenen kann ich das Buch nur empfehlen.