Rezension

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Träume, Träume, Träume

Die dunkle Kammer - Georges Perec

Die dunkle Kammer
von Georges Perec

Ein interessantes Dokument für jeden, der sich mit dem Phänomen des Traumes auseinandersetzen will.

“Aus Deutschland erhalte ich einen Brief, der mir mitteilt, dass Eugen Helmlé gestorben ist. Ich hatte ihm noch am Vortag geschrieben.

Nach und nach wird mir klar, dass ich träume und das Eugen Helmlé nicht tot ist.”

Gott sei Dank war es nur ein Traum – denn was für Übersetzungen und Werkzugänge wären uns entgangen, wenn Eugen Helmlé gestorben wäre. Es wäre uns wahrscheinlich nie möglich gewesen Anton Voyls Fortgang zu lesen, Helmlé geniale Übersetzung von “La Disparation”, dem Roman ohne den Buchstaben “e”. Oder Perecs Opus Magnum Das Leben: Gebrauchsanweisung, das man laut Harry Rowohlt einmal im Jahr lesen sollte. Und ich hätte vielleicht nie das Glück gehabt, dem für mich nach wie vor ungeschlagene Kleinod Träume von Räumen zu begegnen, einer vielschichtigen, epiphanischen Meditation über die Vorstellungen des Raums.

Träume, Schlaf. Die Belassenheit der Dinge, die aber gleichsam im Inneren ungeheure Kapazitäten bereithält. Themen, die in Perecs Werk immer wieder auftauchen. Das Sprachspiel, die Schule von Oulipo, war das Eine; das lieferte die Formen, die Freude, den Spaß, die Herausforderung. Auf der anderen Seite sind da die eigenen Untiefen, aus denen jeder Schreibende schöpft. Gerade bei Perec prallen an der Schnittstelle durchaus einige Gegensätze aufeinander. Denn so genial viele seiner Werke sind, es geht darin oft um Verlassenheit, um Zwingendes und Furchteinflößendes, um das Negierende. In seinem Nachwort schreibt der Übersetzer und Herausgeber Jürgen Ritte:

“Unter den vielen literarischen Wunderwerken, mit denen Georges Perec im Laufe seines viel zu kurzen Lebens die Welt beschenkte, ist die Dunkle Kammer […] gewiss das verstörendste.”

Das ist meiner Meinung nach etwas zu hoch gegriffen, ich halte W oder die Kindheitserinnerung definitiv für das verstörendste Werk Perec; es trifft einen wie einen Wucht, gerade wenn man vorher die eher spielerischen oder meditativ-philosophischen Texte von Perec kannte. Aber beiden Büchern ist die Eigenschaft gemein, gleichsam autobiographisch und doch in gewissem Sinne undurchsichtig, undurchdringlich zu sein.

Im Titel “Die dunkle Kammer” ist natürlich die Idee der Dunkelkammer enthalten, der Ort, wo man aus Negativen Fotos entwickelt. Und tatsächlich ist die Niederschrift von Träumen ein ähnlicher Vorgang. Man erlebt etwas und mit der Linse hält man es fest, wie den Traum mit dem Stift, und es kommen dabei Objekte heraus die eine Version des Traums/des Erlebnisses sind und doch wieder nicht. Es sind Rahmungen, es sind Festsetzungen von etwas, das nicht festgesetzt werden kann.

Trotzdem gelingt Perec in den 124 Traumnotaten Erstaunliches. Sehr oft fängt seine nüchterne Nacherzählung der Träume gut die additive und zugleich kontemplative Bewegung der Träume ein, den Verlauf. Vor allem das Bewusstwerden, das im Traum – noch einmal mehr als in der Wirklichkeit – meist eine geradezu erschütternde, direkt Dimension bekommt. Das ermöglicht es den Lesenden einzutauchen in die andere Seite der Nacht, in die seltsame Kreativität unserer Unterströmung, die alles Mögliche anschwemmt, das einmal in den Strudel unserer Wahrnehmung, unserer Erinnerungen, unserer Bedeutungsaneigung geriet.

“Ich bin A. in meinem Zimmer – und mit einem Zufallsbekannten, dem ich das Go-Spiel beizubringen versuche. Er scheint das Spiel zu begreifen, bis zu dem Augenblick, da mir bewusst wird, dass er glaubt, gerade die Bridge-Regeln zu lernen.”

Die Berichte der Träumen sind von unterschiedlicher Ausführlichkeit und von unterschiedlicher Schwere, je nachdem ob es um ein eher obskures, wie eine Phantasie anmutende Traum-Szenario geht, z.B.:

“Ich gehöre zu einer Gruppe Hippies. Auf einer Landstraße stoppen wir den Verkehr. Wir umzingeln eine Luxuskarosse und rücken ihr bedrohlich näher.”

oder ob Lebensthemen im Zentrum der Träume eine gewisse Gravität einbringen. Einmal träumt Perec, er und ein Freund hätten in “Anton Voyls Fortgang” lauter e’s gefunden; plötzlich tauchen sie auf, stechen hervor, dann sind sie wieder weg. Die Holocaust-Vergangenheit von Perecs Familie und seine privaten Beziehungen sind andere Themen, die oft einfließen; das Bergwerk, zu dem der Traum immer wieder zurückkehrt, um zu schürfen. Und dann sind es wieder von jeglichem Betrachter losgelöste Träume, entkörperte Filme hinterm Auge des Schlafs.

“Nach einer langen Abwesenheit kehrt der Rächer aus Mexiko zurück. Ein Verräter schickt sich an ihn von hinten zu erschießen, als eine hell behandschuhte Hand auftaucht und ihn daran hindert.”

Die dunkle Kammer ist ein reiches Buch, ein Buch mit dem man sich sehr lange beschäftigen kann und dafür muss man nicht einmal an Perec oder seinem Werk im Besonderen interessiert sein. Wobei auch der- oder diejenige auf seine/ihre Kosten kommt, zumal das Nachwort sich sehr gelungen zu Perecs Werk auslässt (und dabei vielleicht ein bisschen zu wenig zu “Die dunkle Kammer”).

Für alle, die sich für den Traum interessieren, für das Wartende, Schlummernde, das erwacht, wenn wir einschlafen, eingefasst und durchdrungen von den Symbolen unseres ganzen Lebens und doch nur in unordentliche Zustände gekleidet, denen wird dieses Buch ein Schatz sein. Jorge Luis Borges zitierte einmal Arthur Schopenhauer mit dem Satz: “Wach sein heißt, das Buch des Lebens lesen, Träumen heißt, darin zu blättern.”