Rezension

Tragische, brutale Familiengeschichte - eindringlich und ungeschönt erzählt

Das wirkliche Leben - Adeline Dieudonné

Das wirkliche Leben
von Adeline Dieudonné

Bewertet mit 4 Sternen

Die namenlose Ich-Erzählerin, die zehn Jahre alt ist, lebt zusammen mit ihrem drei Jahre jüngeren Bruder bei ihren Eltern am Waldrand einer Reihenhaussiedlung. Der Vater ist ein jähzorniger Patriarch, der seine Familie seelisch und körperlich misshandelt. Während seine Ehefrau überwiegend die Schläge abbekommt, leben die Kinder in permanenter Angst, Auslöser eines Wutanfalls ihres Vaters zu sein. Das einzige, was das Mädchen aufrecht erhält, ist das Lachen ihres Bruders, den sie unbedingt schützen möchte. 

Als die beiden Geschwister eines Sommers Augenzeugen eines schrecklichen Unfalls in einem Eiswagen werden, macht sich das Mädchen schwerwiegend Vorwürfe, da er während ihrer Bestellung passiert ist. Gilles ist traumatisiert, spricht nicht mehr, wendet sich von seiner Schwester ab. Das Mädchen hat von nun an nur noch ein Ziel: Sie möchte in die Vergangenheit reisen, den Unfall verhindern und das Lachen ihres Bruders wieder herstellen. Nur auf diese Weise erträgt sie den Alltag, den es durch die Zeitreise bald nicht mehr in dieser Form geben wird. Enttäuscht davon, das eine Reise in die Vergangenheit wie in dem Film "Zurück in die Zukunft" nicht so einfach möglich ist, stürzt sich das wissbegierige und intelligente Mädchen auf die Naturwissenschaften, während Gilles seinem Vater über die Jahre hinweg immer ähnlicher wird. 

"Das wirkliche Leben" ist eine tragische, brutale Familiengeschichte. Geschildert aus der Ich-Perspektive eines unschuldigen Mädchens ist der Roman besonders eindringlich und geht zu Herzen. Zu Beginn, als das Mädchen noch träumt, etwas an ihrer Situation ändern zu können, ist die Stimmung noch hoffnungsvoll, auch wenn man als Leser entsetzt ist, wie abfällig das junge Mädchen über ihren gewalttätigen Vater, aber auch ihre passive Mutter denkt, die sie nur als "Amöbe" bezeichnet. Die Stimmung kippt, als das Mädchen erkennt, dass sie die Zeit nicht so einfach zurückdrehen kann. Sie fühlt sich daraufhin nicht nur von ihren Eltern ungeliebt, sondern auch von ihrem Bruder verlassen. Ihr Weg erscheint aussichtslos und vorgezeichnet. Wie sollen Kinder, die in so einer Atmosphäre von Angst und Gewalt aufwachsen, als Erwachsene eine reelle Chance haben? Der Bruder zeigt schon in jungen Jahren erste Anzeichen dafür, dass auch die Zukunft nicht veränderbar erscheint. Trotz aller Tristesse entfaltet der Roman eine Sogwirkung, da man als Leser auf einen Ausweg aus der Misere hofft - denn wie lange können Schläge vor Nachbarn, Mitschülern und (Nachhilfe)lehrern im Verborgenen bleiben? "Das wirkliche Leben" erzählt ein Familiendrama, eindringlich und ungeschönt. Das Ende des Romans ist zum Verlauf der Geschichte passend und wirkt authentisch, schenkt jedoch wenig Hoffnung, wenn am Ende nur eine Botschaft bleibt: Gewalt erzeugt Gegengewalt.