Rezension

Trotz ernster Thematik gut lesbar und unterhaltsam

Schatten der Welt - Andreas Izquierdo

Schatten der Welt
von Andreas Izquierdo

Bewertet mit 4 Sternen

REZENSION – Leise und beschaulich, als wäre im deutschen Kaiserreich alles im Lot, beginnt der neue Roman des Schriftstellers Andreas Izquierdo (52), in der Werkstatt des jüdischen Schneiders Friedländer im westpreußischen Thorn. Doch der Schein trügt: In der fernen Reichshauptstadt Berlin wird gegen das preußische Dreiklassenwahlrecht demonstriert, und der sich der Erde nähernde Halleysche Komet lässt Unheil, wenn nicht sogar den Weltuntergang vermuten. „Schatten der Welt“ trüben die vermeintliche, nur oberflächliche Idylle, die soziale Missstände brüchig werden lassen.

Protagonisten dieses sozialkritischen Romans sind drei heranwachsende Freunde – noch in der Pubertät, nicht mehr Kinder, doch für Erwachsene noch zu jung: Der schüchterne Carl Friedländer, von Freundin „Isi“ als „Carl Schneiderssohn“ geneckt, unterstützt seinen verwitweten Vater. Luise, genannt Isi, die aufmüpfige Tochter eines despotischen Lehrers und später populistischen Reichstagsabgeordneten, verweigert die von einem bürgerlichen Mädchen geforderte Anpassung. Sie wird, obwohl von Carl heimlich geliebt, die Freundin von Artur Burwitz, dem dank seiner Körperkraft durchsetzungsfähigen Sohn eines prügelnden Stellmachers. Die drei Freunde ergänzen sich in ihren Charakteren und Fähigkeiten zu einem unverbrüchlichen Trio. Statt sich der Gesellschaftsnorm zu fügen, gehen die drei Jugendlichen ihren eigenen Weg und werden – obwohl noch nicht geschäftsfähig – bald zu erfolgreichen Unternehmern: Anfangs verkaufen sie ihren abergläubischen Zeitgenossen unnütze Überlebenspillen und vom Militär auf unkonventionelle Art beschaffte Gasmasken gegen den drohenden Kometen-Absturz. Später kaufen sie auf Arturs Empfehlung, der den Wandel der Zeit frühzeitig erkannt hat, erst einen, dann mehrere dieser neuartigen Lastkraftwagen und unterbieten damit als moderne Spediteure die traditionellen Kutscher.

Als Trio scheinen die Freunde Artur, Isi und Carl erfolgreich und unschlagbar. Als im Juni 1914 der österreichische Thronfolger in Sarajevo von einem serbisch-nationalistischen Attentäter getötet wird, interessiert es sie nicht. Sogar als der Weltkrieg seinen Anfang nimmt, glauben sie sich davon nicht betroffen: „Krieg war etwas, womit sich Menschen beschäftigten, die sonst nichts zu tun hatten. Wir dagegen wollten etwas erschaffen, nicht zerstören. Wir wollten etwas aufbauen, nicht niederreißen. Wir wollten nach oben und nicht im Schlamm irgendeines Niemandslands verrecken“, blickt Carl als Erzähler des Romans zurück. Doch die Geschichte, die so jugendlich leicht und locker begann, entwickelt sich auch für die drei zu einem Drama – für jeden auf andere Weise.

Izquierdos Geschichte liest sich stellenweise wie ein Abenteuerroman vor historischer Kulisse. Doch die drei aufstrebenden Protagonisten, ergänzt um Gutsbesitzerssohn Falk Boysen als Vertreter des feudalistischen Systems, stehen für eine Gesellschaft im Umbruch: Carl hat bereits unter dem noch unterschwelligen Antisemitismus zu leiden. Artur, den Repräsentanten der Arbeiterklasse, drängt es gesellschaftlich „nach oben“. Und Lehrerstochter Isi kämpft unter Missachtung eigener Gefährdung aktiv gegen die gesellschaftliche Unterdrückung und Missachtung der Frauen.

Andreas Izquierdo versteht es – wie schon in seinen früheren Romanen „Das Glücksbüro“ (2013) oder zuletzt „Fräulein Hedy träumt vom Fliegen“ (2018) – wieder ausgezeichnet, den Leser für seine Helden einzunehmen. Man freut sich und leidet mit ihnen. Izquierdos fast sanfte Erzählweise macht das Buch trotz der sich zum Ende zuspitzenden Dramatik angenehm lesbar und trotz aller Ernsthaftigkeit mittels humorvoller Einschübe recht unterhaltsam. Am Ende bleibt die Erkenntnis: Nach dem Krieg ist nichts ist geblieben, wie es einmal war – und doch scheint ein Neuanfang möglich. Carl, Artur und Isi treffen sich in Berlin. Eine Fortsetzung ist wünschenswert.