Rezension

Diese Rezension enthält Spoiler. Klicken, um alle Spoiler auf dieser Seite lesbar zu schalten.

Über die Bedeutung "zu sehen"

Liebe und der erste Blick - Josh Sundquist

Liebe und der erste Blick
von Josh Sundquist

Bewertet mit 4 Sternen

Der 16-jährige Will Porter besuchte sein ganzes Leben Internate und Sommercamps für blinde und sehbehinderte Kinder, doch nun möchte Will die High-School in seiner Heimatstadt Toano in Kansas abschließen - etwas, womit seine umsorgende Mutter gar nicht einverstanden ist. Wills erster Tag in der öffentlichen Schule verläuft eher katastrophal: So tastet er ein Mädchen im Treppenhaus ab oder lässt sich in der Cafeteria auf dem Schoß eines Schülers nieder. Gerade als er beginnt Fuß zu fassen, verliebt er sich in ein Mädchen namens Cecily und eine lebensverändernde Chance wird ihm zuteil. In dem Krankenhaus, in dem Wills Vater tätig ist, wird eine experimentelle Operation zur "Heilung" von Blindheit durchgeführt, welche natürlich mit Risiken verbunden ist. Bei erfolgreicher Implantation muss Will lernen, Aufgaben zu erfüllen, die seine Augen und sein Gehirn noch nie zuvor ausgeführt haben, um all die ungewohnten und überwältigenden visuellen Eindrücke richtig wahrzunehmen und zu verarbeiten.

Die Welt durch Wills Sinne zu erleben und ein Gefühl davon zu bekommen, wie es sein könnte, von Geburt an blind zu sein, war beeindruckend und manchmal auch bewegend. Der Autor beschrieb Wills Umgebung und wie seine Tage verliefen, auf eine erstaunliche Weise ohne jemals Worte aus der Perspektive des Sehens zu verwenden. Als Will schließlich sein Augenlicht zurückgewinnt, wird deutlich, wie viel wir doch für selbstverständlich halten, zum Beispiel das Lernen von Tiefenwahrnehmung und Perspektive oder was Farben sind. Ich gewann eine ganz eigene neue und einzigartige Perspektive des Lesens. Zudem gefiel mir Wills Ansichten über Rassismus oder Schönheit. Als dieser endlich zum ersten Mal seinen afroamerikanischen Freund erblickt, kommentiert er, dass er angesichts all der geführten Kriege, Gräueltaten und des Hasses wegen unterschiedlicher Hautfarben einfach "mehr" erwartet hätte. Der Kontrast sei offensichtlich, aber der Unterschied marginal. Worum geht es also? Eine gute Frage. Ebenso sei es dumm, dass wir unsere Vorstellung von Schönheit auf die unbeständige Meinung der Gesellschaft gründen. Da er nie mit Bildern von idealer Schönheit konfrontiert wurde, ist es ihm egal, wie seine große Liebe aussieht. Er liebt alles an ihr, innerlich und äußerlich. Natürlich gibt es aber auch diverse Konflikte in der Geschichte. (- Spoiler- : So zornig wie Will über den Kommentar seiner Mutter über das "entstellende" Muttermal Cecilys ist, ist er ebenso enttäuscht, darüber, dass Cecily ihn verschwiegen hat, dass sie sehr genau weiß, wie es ist schikaniert zu werden, sich zu schämen und verstecken zu wollen. Er interpretiert Cecilys "Geheimnis" als Ausnutzung seiner Blindheit, damit sie sich selbst besser fühlen konnte. Hier projiziert er zu leicht von sich auf andere, denn er selbst ließ am ersten Schultag seine Sonnenbrille daheim, um nicht zu viel Aufmerksamkeit zu erregen. So versuchten beide verzweifelt sich in ihr Umfeld hineinzupassen, sich nicht durch einen angeborenen Zustand definieren zu lassen, den sie nicht selbst gewählt haben . DIese "Andersartigkeit" definiert einen Menschen jedoch nicht im Ganzen und in allen Facetten. Statt Nachsicht, reagiert er auf eine sehr kindische Art und Weise, was wirklich in eine übertriebene Dramatik ausufert (das sog. "Teenie-Drama" lässt grüßen) und der Geschichte so ein wenig den Glanz nimmt. Doch diese Wendung hält lediglich ein paar Seiten, sodass man darüber hinweg sehen kann (- Spoiler Ende-).

Etwas nervig fand ich dagegen die jugendlichen Mikoragressionen in der alltäglichen Kommunikation der männlichen Charaktere. Diese passen nicht zu dem ansonsten sehr sensiblen Schreibstil des Autors, mit dem Wills Sehbehinderung behandelt wird. Auch das Thema sexuelle Belästigung wird ein wenig heruntergespielt, wenn die körperliche Behinderung einem das Privileg beschert, "aus Versehen" Menschen zu betatschen.

Die teils unangebrachten Witze bringen der Geschichte einen Punkt Abzug, denn diese haben mich wirklich gestört. Alles in allem zeigt sich jedoch die enorme Menge unternommener Forschungen über Sehbehinderungen sowie eine sorgfältige Skizzierung der Geschichte. Für mich zählte auf jeden Fall das Herz in der Geschichte, wie wir miteinander und unserer Umwelt in Beziehung stehen, das neue Verständnis von Sehvermögen und die Bedeutung "zu sehen".