Rezension

Überlebenskünstler

Auf Erden sind wir kurz grandios - Ocean Vuong

Auf Erden sind wir kurz grandios
von Ocean Vuong

Bewertet mit 4 Sternen

Ocean Vuong wurde in den USA durch die Veröffentlichung seiner Gedichte berühmt. “Auf Erden sind wir kurz grandios“ ist sein Debütroman. Ein Little Dog genannter 28jähriger schreibt in einem an seine Mutter gerichteten Brief die Geschichte seiner Familie und seines eigenen bisherigen Lebens auf. Seine Mutter wird ihn nie lesen können, denn sie ist Analphabetin. Großmutter Lan und ihre Töchter Rose und Mai kamen aus Vietnam in die USA, als Little Dog noch ein Kleinkind war. Beide Frauen sind durch Gewalterfahrungen aller Art und den furchtbaren Krieg schwer gezeichnet und leiden an posttraumatischen Belastungsstörungen. Die Großmutter wird zunehmend verrückter. Lan war aus einer arrangierten Ehe geflohen und hatte den amerikanischen Soldaten Paul geheiratet. Tochter Rose wird von ihrem Mann verprügelt, bis dieser sie so verletzt, dass er dafür ins Gefängnis geht. Aber auch das Kind hat es nicht leicht. Er wird schon früh mit Fremdenfeindlichkeit konfrontiert, erfährt Ablehnung und Ausgrenzung und muss sich als pédé beschimpfen lassen (franz. pédéraste=Homosexueller), ein Begriff, der noch aus der Zeit stammt, als Vietnam Indochina hieß und französische Kolonie war. Liebe erlebt er stets als untrennbar von Gewalt: durch die Misshandlungen der eigenen Mutter und in seiner Beziehung zu dem weißen amerikanischen Jungen Trevor, Sohn eines Alkoholikers, der mit seinem Vater in einem Wohnwagen lebt und White Trailer Trash zuzuordnen ist – auch er chancenlos, weil er schon mit 15 Jahren drogenabhängig wird. Trevor will seine Homosexualität nicht wahrhaben. Auch in dieser Liebe gibt es viel Gewalt und Schmerz. Für Little Dog, der anfangs sprachlos war, weil er das Englische nicht beherrschte, wird Sprache zu dem Mittel, in der fremden Welt zu überleben, schließlich als Schriftsteller seine Berufung zu finden.

Der in einer teilweise sehr poetischen Sprache verfasste Roman nimmt im letzten Drittel immer mehr die Züge eines Gedichts an, wodurch Längen und Wiederholungen nicht ganz vermieden werde können, und enthält dennoch auch eine Menge Fakten: die Auswirkungen des Vietnamkriegs auf die Zivilbevölkerung, allgegenwärtiger Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in den USA, weitverbreitete Homophobie, die miserablen Arbeitsbedingungen in unterbezahlten Knochenjobs, wie es Mutter Rose in ihrem Nagelstudio und die beiden Halbwüchsigen auf der Tabakfarm erleben, Drogenabhängigkeit aufgrund des legalen Schmerzmittels Oxycontin, einem Opioid, sozusagen Heroin in Tablettenform. Der Roman ist nicht autobiographisch, enthält aber Elemente aus Vuongs eigenem Leben. Er zeigt, wie Menschen unter schwierigsten Bedingungen überleben und ist zugleich eine lange nachwirkende Meditation über Liebe und Verlust, eine coming-of-age Story, die aufgrund ihres fragmentarischen Charakters und der komplizierten Zeitstruktur nicht ganz einfach zu lesen ist, aber dennoch einen tiefen Eindruck hinterlässt.