Überzeugender und hervorragend erzählter Kriminalroman
Bewertet mit 5 Sternen
Der Autor Dirk Kurbjuweit erzählt den Kriminalfall des Massenmörders Haarmann aus der Sicht des ermittelnden Kommissars. Aufgrund der Kriegsfolgen leben viele Deutsche 1923/24 in großer Armut. Lebensmittel sind teuer. Die neue Republik hat es schwer sich gegen die Monarchisten und rechte Strömungen zu behaupten. Um das Vertrauen der Bevölkerung nicht gänzlich zu verspielen, müssen in Hannover Ermittlungsergebnisse her. Seit Monaten gibt es keinerlei Hinweise auf den Verbleib der verschwundenen Jungs. Die 175. Szene in Hannover ist bekannt und in den letzten Jahren gewachsen. Immer wieder führen die wenigen Spuren in dieses Milieu, ohne Ergebnis. Lahnstein, im Krieg Flieger gewesen und dann in britische Gefangenschaft geraten, ist SPD Mitglied und von der Demokratie überzeugt. Auf dem Polizeipräsidium ist er mit dieser Einstellung nicht willkommen, was wiederum die Zusammenarbeit mit Kollegen erschwert.
Manche Passagen im Buch, in kursiver Schrift gedruckt, schildern die Geschehnisse aus Sicht des Täters sowie aus Sicht eines der Opfer. Zudem gibt es Zeitsprünge in Lahnsteins Geschichte. So erzählt der Roman von seiner Faszination für die ersten Flugzeuge, von seiner Familie, die er verlor, und von seiner Gefangenschaft. Für den Leser entsteht somit ein umfassende Biografie des Charakters Lahnstein. Dadurch fiel es mir leicht eine Verbindung zu der Hauptfigur aufzubauen und seine Handlungen nachzuvollziehen. Auch wirft der Roman die Frage auf, wo die moralischen Grenzen liegen, um einen dermaßen bestialischen Serienmörder zu überführen. Gerade Haarmanns Schilderungen, wie er die Jungs gesucht, gefunden, mitgenommen und am Ende „verarbeitet“ hat, geben Einblick in seine gestörte Wahrnehmung. Jemanden, der solche Morde verübt, muss man stoppen. Doch welche Mittel rechtfertigen am Ende das Ergebnis? Eine Frage, die sich Lahnstein im Verlauf des Romans stellen muss.
Der Fall des Serienmörders Haarmann ist in der Vergangenheit einige Male künstlerisch aufgegriffen worden. Am eindringlichsten und erschreckendsten wahrscheinlich im Film „Der Totmacher“ aus dem Jahr 1995, in dem Götz George Fritz Haarmann sehr authentisch spielt. Dieser Roman fokussiert sich eher auf die moralische Ebene, in einem stark gebeutelten Land, dass schwer an den Repressalien des Krieges zu tragen hat. In einer Demokratie, die jeden Tag ums überleben kämpft. Die Sichtweise des Buches hat mich gänzlich überzeugt. Dirk Kurbjuweit erzählt eine fesselnde Geschichte ohne Partei zu ergreifen oder den Zeigefinger zu erheben. Die moralische Frage ist heute genauso aktuell wie damals. Angesichts solch grausamer Morde, ist die Versuchung groß Mittel und Maß anders abzuwägen, als es die Vorschriften zulassen.
Mich hat der Roman vollends überzeugt. Eine durchweg stimmige Erzählung, Außerordentlich gut geschrieben und durchdacht. Die Geschichte Haarmanns ist mir bekannt, vor allem durch den erwähnten Film. Dieser Kriminalroman wirft ein anderes, sehr interessantes Licht auf die Geschehnisse. Ich bin begeistert und kann das Buch nur empfehlen!