Rezension

Überzeugender und hervorragend erzählter Kriminalroman

Haarmann - Dirk Kurbjuweit

Haarmann
von Dirk Kurbjuweit

Bewertet mit 5 Sternen

Kommissar Robert Lahnstein wird aus dem Ruhrgebiet nach Hannover versetzt, weil die dortigen Beamten in einem mysteriösen Fall keinerlei Fortschritte machen. Seit geraumer Zeit verschwinden in der Stadt regelmäßig Jungs, ohne eine verfolgbare Spur zu hinterlassen. Anfang der 1920iger Jahre herrscht noch verheerende Armut und traumatisierte Männer, die die grausamen Schlachtfelder des Ersten Weltkrieges überstanden, prägen das Stadtbild. Immer wieder sitzen verzweifelte Eltern in Lahnsteins Büro, um ihren Sohn als vermisst zu melden. Der Kommissar beginnt zu resignieren, da alle Anhaltspunkte, jede Ermittlung ins Leere laufen. Seinen Instinkt folgend vermutet er, dass die Taten mit der Verrohung im Krieg und dem 175. Milieu zusammenhängen. Ständig kommen Lahnstein Gerüchte zu Ohren, dass jemand mit Menschenfleisch handle. Gibt es einen Zusammenhang zwischen den Vermissten und dem Fleischhandel? Der Kommissar kämpft sowohl gegen die Zeit als auch gegen Kollegen aus den eigenen Reihen. Schnell bemerkt Lahnstein, dass er niemanden vertrauen kann. Verschwundene Akten oder Aussagen von Zeugen, denen nicht nachgegangen wurde. Und immer wieder verschwindet ein Junge. Als überzeugter Demokrat sieht sich Lahnstein besonders gefordert. Viele Bürger glauben nicht an die neue Republik. Es ist auch an Lahnstein zu beweisen, dass diese demokratische Gesellschaft für Recht und Ordnung sorgen kann. Doch je länger er ohne Ergebnis bleibt, desto größer werden seine Zweifel, den Fall aufklären zu können. Auch die Bevölkerung von Hannover lässt ihn ihre steigende Wut spüren. Doch dann folgt er einer glaubhaften Spur, die ihn vielleicht endlich zum Täter führt.

Der Autor Dirk Kurbjuweit erzählt den Kriminalfall des Massenmörders Haarmann aus der Sicht des ermittelnden Kommissars. Aufgrund der Kriegsfolgen leben viele Deutsche 1923/24 in großer Armut. Lebensmittel sind teuer. Die neue Republik hat es schwer sich gegen die Monarchisten und rechte Strömungen zu behaupten. Um das Vertrauen der Bevölkerung nicht gänzlich zu verspielen, müssen in Hannover Ermittlungsergebnisse her. Seit Monaten gibt es keinerlei Hinweise auf den Verbleib der verschwundenen Jungs. Die 175. Szene in Hannover ist bekannt und in den letzten Jahren gewachsen. Immer wieder führen die wenigen Spuren in dieses Milieu, ohne Ergebnis. Lahnstein, im Krieg Flieger gewesen und dann in britische Gefangenschaft geraten, ist SPD Mitglied und von der Demokratie überzeugt. Auf dem Polizeipräsidium ist er mit dieser Einstellung nicht willkommen, was wiederum die Zusammenarbeit mit Kollegen erschwert.

Manche Passagen im Buch, in kursiver Schrift gedruckt, schildern die Geschehnisse aus Sicht des Täters sowie aus Sicht eines der Opfer. Zudem gibt es Zeitsprünge in Lahnsteins Geschichte. So erzählt der Roman von seiner Faszination für die ersten Flugzeuge, von seiner Familie, die er verlor, und von seiner Gefangenschaft. Für den Leser entsteht somit ein umfassende Biografie des Charakters Lahnstein. Dadurch fiel es mir leicht eine Verbindung zu der Hauptfigur aufzubauen und seine Handlungen nachzuvollziehen. Auch wirft der Roman die Frage auf, wo die moralischen Grenzen liegen, um einen dermaßen bestialischen Serienmörder zu überführen. Gerade Haarmanns Schilderungen, wie er die Jungs gesucht, gefunden, mitgenommen und am Ende „verarbeitet“ hat, geben Einblick in seine gestörte Wahrnehmung. Jemanden, der solche Morde verübt, muss man stoppen. Doch welche Mittel rechtfertigen am Ende das Ergebnis? Eine Frage, die sich Lahnstein im Verlauf des Romans stellen muss.

Der Fall des Serienmörders Haarmann ist in der Vergangenheit einige Male künstlerisch aufgegriffen worden. Am eindringlichsten und erschreckendsten wahrscheinlich im Film „Der Totmacher“ aus dem Jahr 1995, in dem Götz George Fritz Haarmann sehr authentisch spielt. Dieser Roman fokussiert sich eher auf die moralische Ebene, in einem stark gebeutelten Land, dass schwer an den Repressalien des Krieges zu tragen hat. In einer Demokratie, die jeden Tag ums überleben kämpft. Die Sichtweise des Buches hat mich gänzlich überzeugt. Dirk Kurbjuweit erzählt eine fesselnde Geschichte ohne Partei zu ergreifen oder den Zeigefinger zu erheben. Die moralische Frage ist heute genauso aktuell wie damals. Angesichts solch grausamer Morde, ist die Versuchung groß Mittel und Maß anders abzuwägen, als es die Vorschriften zulassen.

Mich hat der Roman vollends überzeugt. Eine durchweg stimmige Erzählung, Außerordentlich gut geschrieben und durchdacht. Die Geschichte Haarmanns ist mir bekannt, vor allem durch den erwähnten Film. Dieser Kriminalroman wirft ein anderes, sehr interessantes Licht auf die Geschehnisse. Ich bin begeistert und kann das Buch nur empfehlen!