Rezension

Unabsichtlich sozialkritischer Klassiker von 1908, der mit Haruki Murakamis Vorwort für heutige Leser verständlich wird

Der Bergmann - Natsume Soseki

Der Bergmann
von Natsume Soseki

Bewertet mit 4 Sternen

Ein junger Mann aus guter Familie hat sich vermutlich unglücklich verliebt und ist zum Selbstmord entschlossen. Da er es nicht fertigbringt, sich das Leben zu nehmen, flüchtet er aus Tokio auf der Suche nach einem menschenleeren Ort, an dem er schließlich sterben wird. Unterwegs wird er von einem Anwerber für eine Kupfermine aufgelesen, der ihm Arbeit im Bergwerk verspricht. Der verwöhnte Städter hat noch niemals körperlich gearbeitet und nicht die mindeste Vorstellung, warum andere Menschen so handeln, wie sie es tun. Der Anwerber und der Neunzehnjährige machen sich zu Fuß auf den Weg zu dem Berg nördlich von Tokyo, auf dem der Zugang zur Mine Ashio liegt. Unterwegs liest der Werber, den der Icherzähler anfangs nur Dotera, „Winterkimono“, nennt, zwei weitere ebenso ahnungslose Männer auf.

Der junge Erzähler beschreibt, was er sieht, begreift jedoch nichts. Als Bergmann arbeiten nur die Ausgestoßenen der Gesellschaft, die entlassenen oder geflohenen Straftäter. In einem System von Leibeigenschaft verschulden sie sich beim Besitzer der jeweiligen „Kantinen“ für Unterkunft und Verpflegung, ohne jede Chance, aus diesem Verhältnis je wieder frei zu kommen. Der ahnungslose Städter sieht zwar, dass der Kupferbergbau nur kahle Hügel zurücklässt und die hohlgesichtigen Arbeiter bald selbst die Farbe von Kupfererz annehmen, es fehlt ihm jedoch an jeglichem Mitgefühl für andere Menschen. Bis auf Yasu, den gebildeten Exhäftling, und Hara, den Leiter der Kantine, kann er sich sprachlich kaum verständigen mit Menschen, die anders reden, als er es gewohnt ist. Diese beiden Männer zweifeln, dass jemand wie er auch nur ein paar Arbeitstage unter Tage überleben wird und drängen darauf, dass er nach Tokyo zurückkehrt. Alle anderen Menschen nimmt der Erzähler als anonyme Masse wahr, als Bestien, für die sich eine Krankenstation nicht lohnt. Der Roman im Stil einer mündlichen Lebenserinnerung endet so überraschend wie abrupt.

Der Erzähler entwickelt sich durch seine kurze Begegnung mit der Arbeitswelt nicht weiter, er wirkt am Ende der Handlung – trotz leiser Ansätze zur Selbstkritik - ebenso distanziert und unfähig zur Empathie wie zu Beginn. In einer streng hierarchischen Klassengesellschaft wie dem damaligen Japan kann man ihm das nicht zum Vorwurf machen, sein Tunnelblick ist allerdings für den Leser anstrengend.

Zum Verständnis des japanischen Klassikers trägt erheblich das 12-seitige Vorwort Haruki Murakamis bei, der die Geschichte der Ashio-Mine anschaulich zusammenfast. Die Umweltschäden durch den Kupferabbau in Ashio bewertet Murakami ähnlich verheerend wie die Verseuchung der Region um Minamata durch Quecksilber. Kupfer wurde in Japan für die Herstellung von Münzen und Waffen benötigt. Die Abwässer von Ashio vergifteten schon 1877 Luft und Wasser, Wälder wurden abgeholzt oder gingen ein, Reisanbau und der Anbau von Maulbeerbäumen für die Seidenraupenzucht wurden unmöglich. Die japanische Regierung leugnete lange Zeit die unübersehbaren Umweltschäden. Schließlich kam es zu einem Arbeiteraufstand, über den Sōseki sich jedoch ausschweigt. Er veröffentlichte seinen Roman als Fortsetzungsroman, verfasst vermutlich unter Zeitdruck und in Geldnot. Der Einblick in die Welt Ashios stammt von einem jungen Bergmann, Arai, der dem Autor seine Lebensgeschichte erzählte. Murakami vermutet, dass Sōseki sich der Brisanz der sozialen Verhältnisse bewusst war, er jedoch mit dem Thema nicht anecken wollte.