Rezension

Unbequem, brisant, erschreckend und meisterhaft geschrieben

Finsterwalde
von Max Annas

Bewertet mit 4 Sternen

Vor fast genau einem Jahr habe ich mit Max Annas´ *Illegal* einen Roman gelesen, der mich aufgewühlt und schockiert hat - und mir beziehungsweise uns Deutschen, uns Menschen auf sehr schmerzhafte Art und Weise einen Spiegel vorgehalten hat. Mir war deswegen eigentlich klar, dass Max Annas seiner Linie auch mit seinem neuen Buch "Finsterwalde" treu bleibt - er tut genau das und legt dabei noch einmal eine ordentliche Schippe drauf. Alleine beim Überfliegen des Klappentextes geschweige denn beim Lesen der eigentlichen Geschichte hat man fast augenblicklich einen fetten Kloß im Hals - und das ist gut so. 

 

Während Alltagsrassismus mittlerweile wieder salonfähig geworden ist und die neuesten Entgleisungen einer gewissen Partei in der Öffentlichkeit oftmals nur halbherzig mit dem Spruch "Die Geschichte soll sich nicht wiederholen" kommentiert werden, labert Max Annas nicht lange um den heißen Brei herum. Er verliert sich nicht in "Was wäre, wenn..."-Visionen, sondern er zeigt auf sehr drastische und sehr aufrüttelnde Art und Weise, was die logische Konsequenz daraus wäre, würde in Deutschland erneut eine nationalistische, eine fremdenfeindliche Partei an die Macht kommen. Dass er dieser Partei in seinem Roman kein Gesicht und ihr den schlichten, aber aussagekräftigen Namen "D" gibt, spricht meiner Meinung nach Bände. Mich hat dabei Annas´ deutlicher Fokus sehr beeindruckt: Denn er lässt "D" sozusagen als Puppenspieler im Hintergrund agieren. Der Leser und auch die Figuren bekommen die Parteiangehörigen nicht zu Gesicht. Das ist ein großartiger schriftstellerischer Kniff, denn so erreicht Annas, dass der Leser sich nicht auf "D" als das pure Böse, den einwandfrei Schuldigen oder auch den Bösewicht stürzt. Stattdessen zeigt er auf, was die Machtübernahme der Partei und die Auflösung der EU mit den Bürgern machen. Wie die Menschen in Deutschland ganz ohne viel "Hilfe" von außen zu den Instrumenten einer fremdenfeindlichen Regierung werden.

 

Ein ebenso beklemmendes wie beeindruckendes Szenario. Denn es zeigt einfach, wie sich die Männer und Frauen an der Spitze bequem zurücklehnen können, während die Bürger ihre Ideale aus Eigenitiative leben und ihre absurden Gesetze rigoros umsetzen. So kann sich auch der kleine Mann als stolzer Deutscher fühlen. Ehrlich gesagt gruselt es mich bei der Vorstellung und ich bekomme Gänsehaut. Denn es ist einfach exakt das, was den Nationalsozialismus so verheerend gemacht hat. Es war schließlich das Volk, das einen grausamen Diktatoren an die Spitze gebracht und seine unvorstellbaren Methoden begrüßt, gefeiert, umgesetzt und geduldet hat. Und wie sich die Geschichte tatsächlich wiederholen kann, wenn wir Rassismus und Nationalismus eine Plattform geben, wenn sich die Menschen erneut kopflos von einer offen fremdenfeindlichen Partei instrumentalisieren lassen, hält Max Annas uns in "Finsterwalde" bis ins Detail vor Augen.

 

Er erschafft ein Deutschland, das vor allem farbige Menschen beziehungsweise generell Menschen mit ausländischen Wurzeln rigoros verfolgt, ihnen die deutsche Staatsbürgerschaft aberkennt, ihnen verbietet, zu arbeiten, sie zusammenpfercht und ihnen die Menschenwürde nimmt. Sie in der Folge in die Verzweiflung, den Tod, die Flucht oder die Kriminalität treibt. Das klingt bekannt und genau das macht die Situation in "Finsterwalde" so erschreckend authentisch und lebendig. Man mag es sich nicht vorstellen, aber man muss es sich vorstellen, um es zu begreifen. Und wie schon in "Illegal" findet Max Annas klare Worte, er schreibt schnörkellos, ungeschönt und auf den Punkt - und anders kann man es auch gar nicht machen. Annas will dem Leser nichts diktieren, er will demonstrieren, aufrütteln und den Leser zur Selbsterkenntnis kommen lassen. Und bei mir ist ihm das auf herausragende Weise gelungen.

 

Jetzt habe ich schon unheimlich viele Worte über die Ausgangssituation und das Setting verloren. Aber auch die Figuren spiegeln Annas´ Konzept durch und durch wider. Sowohl Marie und ihren Kindern als auch Theo und seiner Familie steht man von Anfang an unvoreingenommen gegenüber. Man kann sie nicht einschätzen, versteht sie und ihre Beweggründe auch nicht unbedingt, aber man beobachtet sie. Man beobachtet sie die ganze Zeit über, verfolgt, wie sie sich verändern, wie sie aus verschiedenen Gründen aufeinander zugehen. Annas bildet in seinem Roman auf fesselnde Art und Weise ab, was ein solches Regime, eine solche Stimmung in der Gesellschaft aus unterdrückten Menschen wie Marie und aus eigenständig denkenden Menschen wie Theo macht. Ohne zu werten. Denn das obliegt dem Leser.

 

Ein Konzept, das absolut aufgeht. Einen kleinen Wermutstropfen gab es für mich aber schließlich doch noch, denn die Handlung habe ich insgesamt als nicht so brisant, spannend und fesselnd empfunden wie das Setting selbst. Der Ausbruch aus Finsterwalde, die Suche nach den Kindern, Theos Faszination für eine Frau, die er gar nicht kennt: All das hat unglaublich viel Potenzial, die Handlung schleppt sich aber trotzdem vor allem in der Mitte stellenweise mühsam dahin. Ich weiß nicht, ob sie mir hier und da zu konstruiert wirkte oder ob ich nicht vielleicht doch etwas mehr hätte erfahren wollen üer "D" und die Zustände in Deutschland (obwohl ich es andererseits wie gesagt absolut passend finde, dass Annas zu großen Teilen den Leser einbindet und vieles dessen Fantasie überlässt). Jedenfalls hat mir der letzte Funke gefehlt, um "Finsterwalde" zum realistisch-dystopischen Meisterwerk zu machen. Nichtsdestotrotz polarisiert die Geschichte, schockiert das Drumherum, schnüren einem Annas´ deutliche Worte die Kehle zu. Und insofern hat der Roman meine Erwartungen absolut übertroffen. 

Mein Fazit
Mit "Finsterwalde" hat Max Annas wieder einen Roman geschrieben, der den Leser ordentlich durch die Mangel dreht, der ihn einbezieht und selbst denken lässt. Der uns einen Spiegel vorhält und uns mit einem unguten Gefühl zurücklässt. Leichte Kost ist das sicher nicht, vor allem weil der Fokus gar nicht so sehr auf einer packenden Handlung, sondern vielmehr auf diesem düsteren Setting, der beklemmenden Atmosphäre und dem Wandel der Charaktere liegt. Dabei aber geht Max Annas so geschickt und klug vor, dass man die Augen einfach nicht abwenden kann von diesem erschreckend realistischen Roman. Deswegen gibt es von mir auch eine ganz klare Leseempfehlung.