Rezension

Und am Schluss macht auf einmal alles Sinn

Nichts weniger als ein Wunder - Markus Zusak

Nichts weniger als ein Wunder
von Markus Zusak

Bewertet mit 5 Sternen

2005 erschien Zusaks Roman “The Book Thief”, der 2008 unter dem Titel “Die Bücherdiebin” ins Deutsche übersetzt wurde. Das Buch erregte international sehr viel Aufmerksamkeit, erhielt zahlreiche Auszeichnungen und wurde 2013 verfilmt. Dementsprechend warteten zahllose Leser weltweit mit Spannung auf Zusaks nächsten Roman.

Und warteten. Und warteten.

Dreizehn Jahre lang.

Und in all der Zeit schrieb Zusak an ein und demselben Buch.

In einem Interview mit ‘The Sydney Morning Herald’¹ sprach Zusak 2014 über den lähmenden Druck, der auf ihm lastete. Über die Selbstzweifel. Über die hunderte von Seiten, die er wieder verwarf. Doch im gleichen Jahr sprach er in einem Vortrag im Sydney Opera House auch über den Nutzen des Scheiterns. Über die kreativen Höhen, für die es der Antrieb sein kann. Dass dies keine leeren Worte waren, bewies er, indem er ungebrochen weiterschrieb.

Das ist Entschlossenheit und Hingabe.

Nach dreizehn langen Jahren materialisierte sich aus der Asche der vielen verworfenen Seiten das langerwartete Werk “Bridge of Clay”, das nun unter dem Titel “Nichts weniger als ein Wunder” auch nach Deutschland kommt. Aber kann das Buch dem Erwartungsdruck überhaupt standhalten?

Die Meinungen gehen stark auseinander, aber meiner Meinung nach waren die dreizehn Jahre es wert.

Die Geschichte ist originell, einfallsreich, auf beste Art anders und gleichzeitig seltsam vertraut. Man begegnet sich als Leser selbst in den Seiten des Buches. In den Träumen und Wünschen der Charaktere findet man sich wieder, in ihrer Liebe und ihrer Hoffnung – aber auch im äußersten Gegenteil: in ihrem Scheitern, ihrem Schmerz, ihrer Trauer.

Gerade wegen dieser Vertrautheit entwickelt das Buch eine emotionale Wucht, die im Herzen widerhallt.

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Die Handlung:
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Die Geschichte folgt den fünf Dunbar-Brüdern, die sich nach dem Tod der Mutter und dem Verschwinden des Vaters allein durchs Leben schlagen. Matthew, der älteste Bruder, übernimmt die Vaterrolle für Rory, Henry, Clay und Tommy.

Doch es ist nicht Matthew, sondern Clay, der loszieht, um im wahrsten Sinne des Wortes eine Brücke zu bauen. Eine Brücke aus Stein über ein leeres Flussbett, aber auch eine Brücke aus Hoffnung über eine Kluft aus Schuld und Sehnsucht.
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Körperliche Aggression ist ein wesentlicher Bestandteil dieser kleinen Familie.

Die Jungen lieben sich und schlagen sich gegenseitig blutig, bei einem Konflikt wird gar nicht erst versucht, eine gewaltfreie Lösung zu finden. Sogar positive Emotionen wie Liebe oder Trost werden auf ruppige, oft wortwörtlich schmerzhafte Art zum Ausdruck gebracht. Wie sie sich gegenseitig zurichten, das ist schwer zu lesen, schwer zu ertragen.

Aber so sind die Dunbar-Jungs nun mal: Schmerz und Gewalt sind quasi ihre Sprache, bei aller Liebe.

“Er sprach plötzlich mit solcher Schwere, mit solchem Schmerz, wie mit der Wucht eines Klaviers. Die leisesten Worte waren die schlimmsten. »Es muss ihm so wehtun, dass es ihn fast umbringt«, sagte er, »denn das ist unsere Art zu leben.«”
(Zitat)

Der Tod ihrer Mutter hat die Brüder geprägt, und der Tod zieht sich durch die Geschichte wie ein Leitmotiv. Nicht nur der Tod und was er zerstört, sondern auch der Tod und was er in Gang setzt, vielleicht sogar erschafft. Dabei gelingt es Zusak wunderbar, ohne Kitsch und falsches Pathos über den Tod zu sprechen.

Überhaupt ist Zusaks Schreibstil bemerkenswert. 

“In der Geschichte der Menschheit war dieser Mörder wohl der erbärmlichste:
Mittelgroß, etwa eins fünfundziebzig.
Mit fünfundsiebzig Kilo mittelschwer. 
Aber lass dich nicht täuschen: Er war ein ödes Land in einem Anzug, eine Biegung nach unten, ganz und gar zerbrochen. Er lehnte sich der Luft entgegen, als ob er erwartete, dass sie ihm dem Garaus machte, aber das tat sie nicht, nicht heute, denn mit einem Mal wusste er, dass dies nicht der Tag war, an dem ein Mörder etwas geschenkt bekam.”
(Zitat)

Über die Spraches des Buches ließe sich vieles sagen: ungewöhnlich, stimmungsvoll, eindringlich, voll roher Emotion… Mal ist sie ungeheuer expressiv und bildhaft, dann wieder knapp und auf Wesentliche reduziert

Zusak geht mit seinem Schreibstil Wagnisse ein, die sich auszahlen.
Er findet ungewöhnliche Bilder, die an Ausdruckskraft kaum zu überbieten sind.

Die Wortwahl, vor allem die Metaphern, fand ich oft so grandios, dass ich innehielt und einen Satz zweimal, dreimal, viermal las. Dann wiederum gab es Passagen, mit denen ich mich schwertat und die mich rettungslos verwirrten. Aber das traf für mich vor allem auf die ersten Leseabschnitte zu.

Je weiter man kommt in der Geschichte, desto mehr liest man sich ein in den Schreibstil – als würde man eine Fremdsprache erlernen –, und desto mehr realisiert man, dass Zusak seine Worte so meisterhaft benutzt wie ein Maler Farbe und Pinsel.

Da passt alles, anders erzählt hätte das Buch nicht annähernd die gleiche Wirkung.

Deshalb eine Bitte: lieber Leser, gib das Buch nicht zu schnell auf. Der erste Abschnitt verlangt dem Leser einiges ab, aber es wird einfacher, und es lohnt sich.

Ich lese selten ein Buch zweimal, aber dieses Buch werde ich auf jeden Fall noch einmal lesen. Vieles – ach was, ALLES –, was mir in den ersten Kapiteln noch verwirrend und konfus erschien, wird in späteren Kapiteln wieder aufgegriffen und macht auf einmal so viel Sinn…

Ich bin mir sicher, dass ich mir beim zweiten Lesen oft an den Kopf packen werde: Ach, so ist das.

FAZIT

Nach dem Tod ihrer Mutter werden die fünf Dunbar-Brüder von ihrem Vater kläglich im Stich gelassen. Jahre später setzt Clay, einer der Brüder, sich noch einmal mit dieser Vergangenheit auseinander und versucht, sie nicht nur selber zu überwinden, sondern auch für seine Brüder eine Brücke zu bauen – indem er ganz wortwörtlich eine Brücke aus Stein über einen leeren Fluss baut.

Das Buch ist in den ersten Kapiteln schwierig – kompliziert und sperrig –, doch davon sollte man sich nicht abschrecken lassen. Markus Zusak erzählt eine bewegende Geschichte in einer einmaligen und wundervollen Sprache.

Diese Rezension erschien zunächst auf meinem Buchblog:
https://wordpress.mikkaliest.de/2019/02/19/markus-zusak-nichts-weniger-a...