Rezension

Ungewöhnlich, genial und raffiniert – top!

Blinder Feind
von Jeffery Deaver

Bewertet mit 5 Sternen

Der Chef einer kleinen New Yorker Investmentfirma ist spurlos verschwunden und mit ihm veruntreute Gelder zahlreicher Investoren. Die Büroleiterin Gabriela McKenzie kann nicht glauben, dass ihr Chef zu einer derartigen Tat fähig sein soll. Doch damit nicht genug: Ihre kleine Tochter Sarah wird entführt und der Täter verlangt ein halbe Million Dollar sowie die sogenannte "Oktoberliste", von der Gabriela noch nie zuvor gehört hat. Die Lage scheint aussichtslos, denn Gabriela hat weder das Geld, noch die Liste und die Zeit läuft ihr davon. Doch dann begegnet sie dem attraktiven Daniel Reardon, der sich auf die Verhandlungen bei Entführungsfällen im Ausland spezialisiert hat. Kann er Sarah rechtzeitig aus den Händen des Entführers befreien und welche Rolle spielt dabei die mit sensiblen Daten bestückte "Oktoberliste"?

Leseeindruck:

"Das Leben lässt sich nur rückwärts verstehen, doch es muss vorwärts gelebt werden."
(Søren Kierkegaard)

Deaver erzählt seinen neuesten Thriller rückwärts und beginnt mit Kapitel 36. Unmöglich! – so mein erster Gedanke zu Beginn der Lektüre. Wie soll das gehen? Ich kenne doch dann schon das Ende, wo bleibt da die Spannung? Entsprechend skeptisch habe ich die ersten (oder besser gesagt letzten) Kapitel gelesen und hatte anfangs auch so meine Schwierigkeiten mit der ungewohnten Erzählweise. Schnell war klar: Dieser Thriller erfordert ein gewisses Maß an Konzentration.
Doch Deaver wäre nicht Deaver, wenn er dieses besondere Mittel des Erzählens nicht grandios umgesetzt hätte. Jedes Kapitel ist mit Tag, Uhrzeit und der genauen Angabe wie viele Stunden/Minuten früher wir uns befinden betitelt.
Außerdem leitet eine Fotografie des Autors, die einen direkten oder indirekten Bezug zum Inhalt aufweist, jedes Kapitel ein. Ein tolles Extra, das einmal mehr die Handschrift Deavers aufweist, denn er streut öfter derartige Goodies in und um seine Bücher. Mal ein Soundtrack, dann Rezepte eines Killers und in diesem Buch eben die Fotos.

Wer glaubt, dass das Rückwärtserzählen Spannung nimmt, der irrt – dieser Thriller ist ein Pageturner. Die kurzen Kapitel und der flüssige Schreibstil treiben zusätzlich zur rasanten Lektüre. Der Spannungsbogen ist rund und das einzige Manko hatten für mich die Charaktere, speziell Gabriela. Mir fehlte Tiefe bei der Protagonistin und ich wurde mit der Figur nicht warm. Einige Gedankengänge waren für mich nicht nachvollziehbar, sie erschien mir oberflächlich und damit auch unsympathisch.
ABER – und das ist der springende Punkt: Die gängige Charakterentwicklung ist durch das Rückwärtslaufen der Handlung nicht gegeben. Der Leser lernt Charaktere kennen, die bereits ihre Entwicklung vollzogen haben und deshalb in bestimmten Situationen vermeintlich seltsam handeln. Die Umstände, die zu Entscheidungen führen sind dem Leser (noch) nicht bekannt. Diese Tatsache führt einerseits zu großer Spannung und andererseits zu "schwierigen" Figuren.
Für mich gab es daher letztlich auch für die Charaktere keinen Punktabzug bei der Bewertung.

Warum aber greift Deaver zu diesem seltsamen stilistischen Mittel?
Nun, diese Frage beantwortet der Autor selbst in seinem Vorwort, welches hier selbstverständlich am Ende zu lesen ist.

Funktioniert es?
Ja, unbedingt. Als Leser sollte man natürlich gewillt sein, sich auf dieses Experiment und Wagnis des Autors einzulassen. Liest man das Buch mit der nötigen Konzentration, so entfaltet sich eine wirklich gute Story, die mit der gewohnten Genialität Deavers punkten kann. Er ist und bleibt der Meister der Täuschung!

Ein letzter Gedanke zum Titel "Blinder Feind" (im Original "The October List"). Zunächst habe ich nicht verstanden, was diese Übersetzung sollte und war gespannt, ob sie nach der Lektüre noch einen Sinn ergeben würde. Und ja, mit dem deutschen Titel kann ich durchaus gut leben. Er ist doppeldeutig und damit passend zu einem Thriller von Deaver.

Fazit:

Ein raffinierter und rasanter Thriller, der mit vielen Aha-Erlebnissen gespickt ist und ein ganz besonderes Ende, äh einen ganz besonderen Anfang, bietet. Ich bin froh, mich kompromisslos auf dieses Experiment eingelassen zu haben und einmal mehr begeistert von Deavers Können. Absolut lesenswert!