Rezension

Ungewöhnlich, spannend, interessant!

Vier Tage in Kabul - Anna Tell

Vier Tage in Kabul
von Anna Tell

Bewertet mit 4 Sternen

Ein erstaunlicher und wirklich packender Politkrimi ist der schwedischen Autorin Anna Tell mit ihrem Romandebüt „Vier Tage in Kabul“ gelungen, der im August bei Rowohlt als erster Band der Reihe „Die Unterhändlerin“ erschien. Die Handlung mag ja fiktiv sein, aber sie wirkt ungemein real. Anna Tell weiß ja auch, worüber sie schreibt: Als hauptberufliche Politologin und Kriminalkommissarin war sie selbst 20 Jahre lang als Polizei- und Militärberaterin sowie Unterhändlerin im In- und Ausland im Einsatz.
Um einen solchen Einsatz als ISAF-Ausbilderin und Unterhändlerin bei der militärisch ausgerüsteten Polizei Afghanistans geht es in Anna Tells Krimidebüt: Zwei schwedische Diplomaten wurden in Kabul entführt, eine Lösegeldforderung liegt vor. Verhandlungsspezialistin Amanda Lund, gerade in Afghanistan zur Ausbildung afghanischer Sicherheitskräfte stationiert, erhält aus Stockholm den Auftrag, in diesem Fall mit den Entführern zu verhandeln und die Geiseln frei zu bekommen. Wegen des heiklen politischen Verhältnisses zwischen Schweden und Afghanistan darf dieser Fall nicht öffentlich werden. Bei der Stockholmer Reichskriminalpolizei leitet Bill Ekman diesen Einsatz, der gleichzeitig den Mord an einem jungen Diplomaten untersucht, der erst kürzlich aus Kabul zurückkam. Hinweise deuten auf einen Zusammenhang beider Fälle. Das schwedische Außenministerium ist in höchster Aufregung, da der Staatsbesuch des afghanischen Präsidenten kurz bevorsteht, weshalb sich der Staatssekretär in die Ermittlungsarbeit einmischt.
Wer in „Vier Tage in Kabul“ einen aktionsreichen Kriegsroman mit einer „schießwütigen“ Superheldin à la Lara Croft erwartet, liegt falsch: Amanda Lund gibt auf knapp 390 Seiten keinen einzigen Schuss ab! Autorin Anna Tell kennt die Gefahr solcher Einsätze in Kriegsgebieten, aber auch die Nüchternheit ihres Berufes, eingebunden in hierarchische Abhängigkeiten. Ihr Roman ist vielleicht deshalb recht realistisch und in der Sprache auffallend nüchtern. Ihre Figuren sind keineswegs Superhelden, sondern normale Menschen mit ganz normalen Problemen: Amanda spürt während ihres Einsatzes die ersten Anzeigen einer Schwangerschaft, geschwängert von einem verheirateten Mann. Ihr Chef Bill Ekman gefährdet seine Ehe, da er, wie seine Frau es ihm vorwirft, mit seinem Beruf verheiratet ist. Der schwedische Botschafter in Kabul muss seine Homosexualität verheimlichen.
„Vier Tage in Kabul“ ist sicher kein literarisches Meisterwerk, das einen Buchpreis verdient hätte, aber im besten Sinn gute und spannende Unterhaltung, dazu noch interessant, ist doch Afghanistan nicht gerade ein typischer Schauplatz für europäische Thriller. Wir lernen – zumindest ansatzweise – dieses Land in seiner desaströsen politischen Zerrissenheit kennen, wir begegnen dem täglichen Terror auf der Straße. Europäer halten sich bevorzugt in sicheren Häusern und Hotels auf, fahren in gepanzerten Limousinen – wie auch der schwedische Botschafter, der bald in einem dieser Hotels ermordet wird.
Natürlich gelingt es der kampferprobten Polizistin Amanda Lund am vierten Tag, die beiden Geiseln lebend zu befreien. Dies zu schreiben, ist kein Geheimnisverrat. Auch die Identität des Mörders ist keine Überraschung. Doch beides zu wissen oder zu vermuten macht den Krimi nicht weniger spannend. Denn im Kern geht es um andere Themen: Da ist der Gegensatz zwischen der modernen und gleichberechtigten schwedischen Frau und den afghanischen Polizisten, deren Kommandanten sie Befehle erteilen darf. Oder die politisch gewollte Zusammenarbeit zwischen afghanischen und schwedischen Einheiten, die von afghanischer Seite auch gern sabotiert wird. Oder die Widersprüche zwischen aufklärender Polizeiarbeit und der politisch begründeten Verschleierungstaktik von Regierungsstellen. „Man muss der Gerechtigkeit zu ihrem Recht verhelfen“, lässt sich die Unterhändlerin und Polizistin Amanda Lund allerdings in ihrer Arbeit nicht ablenken. Schon jetzt dürfen wir uns auf ein zweites Abenteuer mit der schwedischen Unterhändlerin freuen: „Fünf Nächte im Kosovo“ ist für März 2019 angekündigt.