Rezension

Ungewöhnliche Fantasy-Dystopie

The Jewel - Amy Ewing

The Jewel
von Amy Ewing

Bewertet mit 5 Sternen

HINWEIS: Ich habe das Buch im englischen Original gelesen. Zwar habe ich auch die 18-seitige deutsche Leseprobe gelesen und daraufhin den ersten Eindruck gewonnen, dass die deutsche Übersetzung gut gelungen ist, aber ich kann natürlich keine wirklich fundierte Aussage über die Qualität der Übersetzung machen.

Die Geschichte ist in meinen Augen etwas ganz Neues, eine zutiefst originelle, märchenhaft-fantasievolle Dystopie mit einer Vielzahl an grandiosen Einfällen. Eine ähnliche Grundidee habe ich noch in keinem anderen Buch gelesen:

Eine große Stadt, die nur von starken hohen Mauern davor bewahrt wird, vom tosenden Ozean verschlungen zu werden. Eine Gesellschaft, die in einer Art striktem Kastensystem funktioniert, wobei jede Kaste in einem eigenen Stadtteil lebt. Regiert wird sie vom dekadenten Adel, der im "Juwel" in unerhörtem Reichtum schwelgt.

Da der Adel allerdings schon seit Jahrhunderten Inzucht betreibt, können die adligen Frauen keine Kinder mehr bekommen, die nicht entstellt, geistig behindert oder von Erbkrankheiten geplagt sind.

Die "Lösung" ist so magisch wie grauenhaft:

Ausgerechnet den Ärmsten der Armen werden gelegentlich Töchter geboren, die eine kostbare, durch Blut und Schmerz erkaufte Begabung haben: sie können Dinge durch reine Willenskraft verändern, und das erlaubt es ihnen, die Nachkommen des Adels gesund auszutragen. Nur fragt niemand danach, ob sie das auch wollen... Schon als Kinder werden sie eingesperrt und als zukünftige Leihmütter trainiert, um dann wie Vieh an adlige Frauen versteigert zu werden.

Violet, die Hauptfigur, ist eine dieser Unglücklichen. Sie war mir von der ersten Seite an sympathisch, denn sie ist sehr tapfer und hat trotz ihres eigenen schweren Schicksals eine mitfühlende, großherzige Natur. Sie wagt es zwar nicht, allzu offen zu rebellieren, denn das könnte ihr Todesurteil sein, aber im Rahmen ihrer Möglichkeiten versucht sie, sich ihre Individualität zu bewahren. Für mich ist sie ein großartiger Charakter mit einnehmenden Stärken, aber auch gravierenden Schwächen, die sie erst so glaubhaft und überzeugend machen.

Auch die anderen Charakter fand ich wunderbar komplex und mehrschichtig geschrieben: auch die scheinbar abgrundtief Bösen haben meist ihre verletzlichen Seiten, wie zum Beispiel Violets Herrin, die sie oft erniedrigt und behandelt wie einen Hund, aber dann doch manchmal Mitgefühl für sie zeigt... (Wobei dennoch kein Zweifel daran besteht, dass ihr Verhalten absolut nicht zu entschuldigen ist!)

Mein Lieblingscharakter ist Lucien, dem Violet das erste Mal begegnet, als er sie für die Auktion schminkt und herrichtet. Da es seine Rolle ist, den adligen Frauen zu dienen, wurde er kastriert, lebt also als Eunuch. Er ist lange der Einzige, der Violet tröstet und unterstützt, und dennoch ist die Frage: warum tut er das? Ist er wirklich wohlwollend, oder verfolgt er seine ganz eigenen Ziele? Gerade diese Zwiespältigkeit machte ihn für mich so interessant! (Obwohl ich bis zur letzten Seite gebetet habe, dass er doch bitte, bitte einer der Guten sein soll... Ob er das ist, verrate ich hier nicht!)

Natürlich ist es Violet nicht erlaubt, sich zu verlieben. Und natürlich tut sie es trotzdem. Nicht etwa in Garnet, den missratenen Sohn der Herrin, sondern in einen jungen Mann, der nur auf den ersten Blick freier ist als sie selbst. Ash ist ein "Begleiter" für junge Adlige. Er schmeichelt ihnen, bringt ihnen das Tanzen bei - und auf Wunsch auch das Küssen (oder mehr). Aber auch er hatte nicht wirklich eine Wahl, ob er seinen Körper verkaufen will.

Die verbotene Liebe zwischen den beiden hat etwas unheimlich Rührendes, wird dabei aber in meinen Augen nie zu kitschig. Sie führt dazu, dass Violet Entscheidungen trifft, bei denen ich die Hände entsetzt über dem Kopf zusammengeschlagen habe, aber sie ist eben ein junges Mädchen, für das diese Liebe das einzig Gute im Leben ist. Da kann man eine gewisse Kopflosigkeit doch entschuldigen?

Die Geschichte fängt spannend an und wird dann sogar von Kapitel zu Kapitel immer spannender, je mehr man über diese Gesellschaft erfährt und was wirklich hinter dem korrupten politischen System steckt. Auch, wenn sich das Ganze manchmal liest wie ein Märchen, wenn die Autorin in Beschreibungen der prachtvollen Kleider und der wunderschönen Paläste schwelgt - es ist doch auch eine Dystopie, die vor wirklich schrecklichen Dingen nicht zurückschreckt. Manchmal hatte ich den Eindruck, dass in dieser Welt niemand wirklich glücklich und frei ist, nicht einmal die Mächtigen.

Das Buch endet in einem fiesen Cliffhanger, der dazu geführt hat, dass ich direkt nachgeschlagen habe, wann der nächste Band erscheint...

Den Schreibstil fand ich einfach wunderbar, bunt und lebendig und voller dichter Atmosphäre. Das war Kopfkino vom Allerfeinsten; ich konnte immer alles sehr detailliert vor mir sehen.

Fazit:
In der Welt von "Das Juwel" kann der Adel nach Jahrhunderten der Inzucht keinen gesunden Nachwuchs mehr produzieren - stattdessen werden magisch begabte Töchter der untersten Schicht eingesperrt, "trainiert" und wie Vieh als Leihmütter versteigert. Die junge Violet ist gerade versteigert worden, kann und will sich aber mit ihrer zugedachten Rolle nicht abfinden.

Ich fand die Geschichte bemerkenswert originell, spannend und fantastisch geschrieben! Wirklich mal etwas ganz Anderes, was man definitiv noch nicht tausendmal gelesen hat.