Rezension

Ungewöhnliche, schwer verdauliche Kost

Ein wenig Leben - Hanya Yanagihara

Ein wenig Leben
von Hanya Yanagihara

Bewertet mit 3.5 Sternen

Inhalt

Seit dem College sind sie miteinander befreundet: Willem, der gutaussehende, warmherzige Teilzeit-Kellner, der von einer Schauspielkarriere träumt, der künstlerisch Begabte JB, Sohn von Einwanderern aus Haiti, der vermögende Malcom, der versucht, den Erwartungen seines Vaters gerecht zu werden und daran zu scheitern droht, und der mysteriöse, introvertierte Jude, der von physischen und psychischen Problemen gequält wird. 
Ein Roman über vier Männer mit unterschiedlichen Ambitionen, über ihre jahrzehntelange Freundschaft, über Neid und schreckliche Geheimnisse, die diese zu zerstören drohen. 

Meine Meinung

Es fällt mir wahnsinnig schwer, dieses Buch zu bewerten. Normalerweise kann ich zwei, drei ähnliche Romane heranziehen und vergleichen, welche Aspekte mir an meiner aktuellen Lektüre besser, schlechter oder gleich gut/schlecht gefallen haben, um ein paar grobe Anhaltspunkte zu haben. Bei "Ein wenig Leben" ging das nicht. Denn die Bücher, die ich gelesen habe und die sich in Form und thematischer Ausrichtung "Ein wenig Leben" annähern, kann ich an einer Hand abzählen. Was aber macht "Ein wenig Leben" so anders?
Als erstes wäre der Handlungszeitraum zu nennen. Man lernt die vier Protagonisten Willem, JB, Jude und Malcom als junge Männer kennen und begleitet sie bis ins hohe Alter von über 60 Jahren. Entsprechend erstrecken sich die Ereignisse über mehrere Jahrzehnte, wobei auch einige größere Zeitsprünge gemacht werden. Das wirkte sich auch unweigerlich auf das Erzähltempo und den Rhythmus aus. Yanagihara erzählt die Geschichte auf eine weniger reißerische, dafür beständige, gemächliche Art und Weise, in etwa so, als würde sich die Puste für einen Marathon einteilen und nicht einen Sprint absolvieren wollen.
Zweitens: Die komplette Lektüre war eine Reise ins Ungewisse. Unmittelbar beim Lesen hat es sich so angefühlt, als würde Yanagihara auf ein konkretes Ziel zusteuern. Das soll nicht heißen, dass sie planlos geschrieben hätte (im Gegenteil: ihre Worte sind immer wohl überlegt). Mir erschien es so, als könne sich die Geschichte in alle Richtungen entfalten und als hätte sie keinen bestimmten dramatischen Höhepunkt im Sinn. Es war eher ein stetiges An- und Abschwellen der Dramatik, eine Aneinanderreihung mehrerer kleiner Höhepunkte (bzw. eher Tiefpunkte), die durch Beschreibungen alltäglicher Dinge oder innerer Monologe der Charaktere miteinander verbunden werden. Das war Fluch und Segen zugleich. Ein Segen war es, weil ich tatsächlich das Gefühl hatte, am Leben von Jude, Willem, JB und Malcom teilzuhaben. Die Möglichkeit, ihren Weg über Jahre hinweg mitverfolgen, zu sehen, zu welchen Menschen sie werden, hat sie für mich greifbarer gemacht. Ich habe es deshalb auch sehr bedauert, dass es zunehmend zu einer Zwei-Mann-Geschichte wurde. Ich habe schon am Anfang gemerkt, dass Yanagihara scheinbar zwei "Lieblinge" in der Gruppe hat, während die anderen beiden eher Sidekick-Charakter hatten, um das Quartett zu komplettieren. Das wurde mit jedem neuen Lebens- und Leseabschnitt deutlicher. Der negative Nebeneffekt des Erzählstils war, dass es streckenweise zu langatmig und zäh wurde und ich nicht immer das unbändige Bedürfnis verspürt habe weiterzulesen.
Letzteres hängt allerdings zu einem Großteil mit Punkt 3 zusammen: "Ein wenig Leben" ist ausgesprochen schwere Kost - nicht nur, weil es ein über 900 Seiten dicker Wälzer ist, sondern vor allem, weil der Yanagihara Themen verarbeitet, die nicht so leicht zu verdauen sind (Drogensucht und häusliche Gewalt sind da noch nicht mal die schlimmsten). Es ist nicht übertrieben, wenn ich sage: Es war heftig! Es gab mehrere Momente, in denen ich ein beklommenes Gefühl hatte, ganze Passagen, in denen mir so schlecht wurde, dass ich sie nur überflogen habe (bestimmte Themen sind bei mir einfach unangenehme Trigger), Szenen, in denen ich mir machtlos vorkam. Es war erdrückend, frustrierend und nervenaufreibend. Aus dieser Lektüre geht man definitiv nicht mit einem positiven Lebensgefühl raus. Deswegen war ich fast schon froh, dass der Ton durch den Er-Erzähler relativ nüchtern ausfiel. So hatte ich wenigstens die Möglichkeit, noch etwas Distanz zu wahren, sodass mir die Geschichte(n) nicht noch mehr unter die Haut ging(en) als ohnehin schon. Yanagihara hat sich diesen brisanten Themen mit einer Ernsthaftigkeit angenommen und sie in all ihrer Hässlichkeit dargestellt. Dafür bewundere und respektiere ich sie als Schriftstellerin. Dennoch hätte ich mir - für meinen eigenen Seelenfrieden - ein paar lockerere, heiterere Momente gewünscht.

Mein Fazit

Insgesamt war es für mich eine Leseerfahrung, die ich zwar nicht missen wollen würde, für die aber meinerseits kein allzu baldiger Wiederholungsbedarf besteht. Die Themen sind schwer zu verarbeiten, niederschmetternd und demoralisierend, aber eben deshalb auch wesentlich realitätsnäher. Die 3-Sterne-Bewertung ist deshalb kein Ausdruck dessen, wie gut es mir gefallen hätte - denn ein solches Buch kann einfach nicht im klassischen Sinn "gefallen" -, sondern eher das Resultat der widersprüchlichen, schwer zu sortierenden Gefühle, die ich während und nach der Lektüre empfunden habe.

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