Rezension

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Unglaublich gut

Was fehlt, wenn ich verschwunden bin
von Lilly Lindner

Bewertet mit 5 Sternen

Für mich eindeutig viel mehr als ein Jugendbuch. Die Autorin begeistert mit raffinierten Wortspielen in einer gefühlvollen Geschichte. Selten, dass ein Schreibstil mich so begeistert hat.

Form und Stil:
Das Buch ist in zwei Teile geteilt. Im ersten Teil des Buches schreibt Phoebe als Ich-Erzählerin Briefe an ihre große Schwester April. Im zweiten Teil finden sich dann aus der Ich-Perspektive von April Briefe von ihr an Phoebe, die teilweise mit dem ersten Teil in Bezug stehen und teilweise auch für sich allein.

Was das Buch zu einem großen Teil ausmacht ist der unglaubliche Schreibstil der Autorin. Er brilliert in wahnsinnigen und stellenweise unfassbar kreativem Spiel mit Worten. Die Autorin setzt Punkte, Kommata und Zeilenumbrüche an Stellen an denen man sie nicht erwartet und erzeugt dabei einen ganz eigenen Wortfluss. Die Worte sind dabei immer wieder voller Poesie, literarisch durch anspruchsvoll und gleichzeitig immer wieder voller kindlicher Leichtigkeit und Phantasie. Ich habe mir so viele Textstellen markiert. Das Buch ist voller wunderschöner Sätze Dank einer Autorin die wirklich mit den Worten gearbeitet hat.

Eigene Meinung:
Was für ein wunderschönes Buch. Es fällt mir wirklich schwer, Worte zu finden, die auch nur annähernd genug sagen. Dieses Buch hat mich verzaubert und gleichzeitig schwermütig gemacht. Es hat mich berührt und dabei zum Lachen, Weinen und Nachdenken gebracht. Ich habe selbst eine kleine Schwester und so hat mich das Buch auch immer wieder in Erinnerung schwelgen lassen. Besonders Aprils Schicksal hat mich aber immer wieder auch unheimlich wütend gemacht.

Ich muss zugeben, dass ich zu Beginn des Buches ein bisschen mit dem Stil der Autorin gehadert habe. Ich hatte meine Zweifel, ob die Wortgewalt für ein Kind im Alter von Phoebe angemessen sein kann. Im Laufe des Buches habe ich jedoch Phoebe weiter kennen gelernt und muss zugeben, dass es letztendlich alles sehr authentisch auf mich gewirkt hat. Phoebe ist wirklich ein fantastisches Kind. Sie ist so voller Lebensfreude und Phantasie. Trotzdem merkt man im Laufe des Buches auch eine starke Entwicklung bedingt durch die Krankheit ihrer Schwester. An manchen Stellen wirkt sie dadurch fast ein bisschen altklug. Verständlicherweise ist sie aufgrund der familiären Entwicklung jedoch voller Gedanken und Gefühle, die ihre Altersklasse deutlich übersteigen.

Auch Aprils Persönlichkeit ist beeindruckend. Zuerst dachte ich, dass sich ihre Krankheit darauf zurückführen lässt, dass sie sich zu unverstanden und einsam gefühlt hat. Letztendlich steckte dann aber noch etwas ganz anderes dahinter, was mich zum Ende des Buches dann wirklich noch einmal überrascht und schockiert hat. Der Autorin ist es wirklich gut gelungen durch den Perspektivwechsel bei den Briefen Aprils gleiche oder ähnliche Situationen aus ihrer Sicht noch einmal ganz anders zu beschreiben als es zuvor aus Phoebes Sicht erfolgt ist. Dadurch wurde ein sehr umfassendes Gebilde geschaffen und der Geschichte sehr viel Tiefgang verliehen.

Beide Teile des Buches beschreiben dabei auch die bewegende Bindung zwischen den Schwestern. Sie haben beide ein überdurchschnittliches Talent für Worte und verstehen sich blind und auf einer Ebene auf der sie sonst vielleicht keiner verstehen kann. Denn ihre Eltern haben Schwierigkeiten mit ihnen und dann auch mit Aprils Krankheit umzugehen. Da haben mir manche Stellen wirklich im Herzen wehgetan und ich hoffe, dass ich nie so gestresst bin, dass ich von der Begabung meiner Kinder so genervt sein könnte. Die Charaktere sind alle sehr gut ausgearbeitet. Nicht nur die beiden Schwestern sind dabei sehr liebevoll gestaltet. Auch Phoebes Freundinnen Hazel und Paula sind tolle und abwechslungsreiche Persönlichkeiten, die an ihrer Seite stehen und sie verstehen. Ein wenig schade war es für mich, dass die meisten Erwachsenen in der Geschichte wirklich schwierig und unsympathisch waren. Der einzige Lichtblick war da Jerry, der Fänger im Wortschatz.

Das Buchthema selbst ist natürlich eher schwere Kost. Aber der Autorin gelingt es in meinen Augen sehr gut das Thema lehrreich aufzuarbeiten ohne dabei belehrend zu wirken. Sie schildert glaubhaft und wortgewaltig Phoebes Verzweiflung und gleichzeitig ihre Probleme die Krankheit ihrer Schwester zu erfassen. Auch Aprils Sicht hat mich berührt und gleichzeitig betroffen und traurig gemacht. Ich muss auch zugeben, dass das Buch meine Sicht auf die Krankheit Magersucht verändert hat und mich dieser „Blick hinter die Kulissen“ in meinem Denken sehr stark beeinflusst hat.

Mein einziger kleiner Kritikpunkt ist die Namenswahl. Ich verstehe, dass "April" für die Geschichte sinnvoll war und es ist auch durchaus stimmig dem gegenüber "Phoebe" zu wählen. Aber eine kleine Begründung, warum es englische Namen sein mussten, weiß ich nicht. Genauso empfand ich einige Stellen, die mit dem Namen im Gegensatz zum Monat spielen zu konstruiert, da die englische Aussprache eigentlich eindeutig genug differenziert hätte. Aber das ist wirklich nur ein winziger Punkt, der der großen Begeisterung insgesamt keinen Abbruch tun konnte.