Rezension

unglaublich vielschichtig

Die unglaubliche Flucht des Uriah Heep - H. G. Parry

Die unglaubliche Flucht des Uriah Heep
von H. G. Parry

Bewertet mit 4 Sternen

Robert Sutherland führt ein ganz normales Leben. Er ist Jurist und lebt mit seine Freundin Lydia in Wellington. Eines nachts bekommt Robert wieder einmal einen Anruf von seinem jüngeren Bruder Charley, der ihn um Hilfe bittet. Charley ist Literaturprofessor an der Universität und literarisch ein absoluter Überflieger. Schon mit zwei Jahren konnte er lesen und als 13jähriger ging er nach Oxford, um dort zu studieren. Es ist nicht der erste nächtliche Anruf, seit Charley zurück aus England ist. Wie jedes Mal eilt Robert als der ältere seinem Bruder zur Hilfe. Charley, Literaturprofessor an der Universität, besitzt seit frühster Kindheit die besondere Gabe Romanfiguren aus Büchern herauslesen zu können. Die Figuren erscheinen in seiner Interpretation als reale Wesen. Diesmal ist es ausgerechnet Uriah Heep, der unangenehme Bösewicht aus David Copperfield, den er versehentlich zum Leben erweckt hat. Mit aller Macht setzt sich Uriah Heep zur Wehr, denn er will nicht wieder zurück in seine Geschichte. Er erzählt den Brüdern von einer neuen Welt, die bald über Wellington kommen wird. Doch es nützt ihm nichts. Charley liest ihn unbeeindruckt zurück ins Buch. Als Robert am nächsten Morgen in der Anwaltskanzlei neue Praktikanten begrüßt, steht ihm überraschender Weise Uriah Heep wieder gegenüber. Doch dieser Uriah Heep ist keine Schöpfung seines Bruders. Wer außer Charley verfügt in Wellington noch über die Gabe? Als Charley in seinem Haus vom Hund von Baskerville bedroht wird, ist klar, dass es tatsächlich noch jemand anderen gibt, der Romanfiguren heraufbeschwören kann. Dieser Jemand scheint Charley herausfordern zu wollen. Stimmt die Behauptung Uriah Heeps, dass eine neue Welt bevorsteht. Von Neugier getrieben machen sich die Brüder daran, dass Geheimnis zu ergründen. Dabei stoßen sie auf eine geheime Straße mitten in Wellington, in der ausschließlich Romanfiguren leben. Woher kommen all die Figuren? Robert und Charley ahnen nicht, in welche Gefahr sie sich begeben und welche bedeutende Rolle ihr Verhältnis zueinander dabei spielt wird.

Robert ist nicht sonderlich erfreut, dass sein jüngere Bruder Charley wieder in Wellington wohnt. Charley ist der Überflieger in der Familie. Er übersprang einige Klassen und brach schon mit 13 Jahren zum Studium nach Oxford auf. Doch nicht nur das Charley ein Wunderkind war, nein, er besitzt auch noch eine außergewöhnliche Gabe. Schon als zweijähriger konnte er lesen und war in der Lage, Romanfiguren aus Büchern herauszulesen und sie zum Leben zu erwecken. Seine Eltern und Robert bemühten sich, Charleys Besonderheit zu verbergen.

Mittlerweile ist Charley Literaturprofessor und angesehener Charles Dickens Experte. Nur passiert es ihm immer wieder, vor allem, wenn er müde ist, dass die geschrieben Wörter Realität werden. Diesmal ist es nun ausgerechnet der Widerling Uriah Heep. Es kostet die beiden Brüder viel Mühe, in wieder einzufangen und dahin zu lesen, wohin er gehört.

Am nächsten Tag erscheint eine andere Uriah Heep Version in Roberts Anwaltsbüro und stellt sich als der neue Praktikant Eric vor. Dieser Uriah Heep ist allerdings keine von Charleys Interpretationen. Also woher kommt er und was will er ausgerechnet in Roberts Kanzlei?

Am selben Tag taucht der Hund von Baskerville in Charleys Haus auf und bedroht ihn. Irgendetwas stimmt nicht. Zusammen machen sich die Brüder auf, um dem Geheimnis auf die Spur zu kommen und stoßen auf eine verborgene Straße mitten in Wellingtons Ausgehviertel. Dort treffen sie auf zahlreiche Romanfiguren, sogar in verschiedenen Ausführungen. Allein von Janes Austens Mr. Darcy gibt’s fünf Versionen. In der Straße wohnt auch Millie. Sie ist aus einen Abenteuerbuch für Kinder und Charleys Entwurf. Vor vielen Jahren ist sie ihm entwischt. Mittlerweile ist aus dem jungen Mädchen tatsächlich eine erwachsene Frau geworden, die als Finanzberaterin arbeitet. Gemeinsam ergründen sie die seltsamen Veränderungen, die in Wellington voranschreiten. In erster Linie werden diese in der geheimen Straße, die Dickens Vorstellung von London entsprungen scheint, sichtbar. Die Bewohner haben Angst entdeckt zu werden.

Es ist unübersehbar, dass der anderer Beschwörer Charley herausfordern will. Er nutzt für die Erschaffung seiner Welt, Charleys Werk über die Interpretation der fiktiven Welt in Charles Dickens Romanen. Doch wer ist der andere Beschwörer und woher weiß er von Charley? Robert ahnt, dass hinter der Gabe seines Bruders mehr steckt, als er bisher vermutete. Ohne Charleys Wissen beginnt er Nachforschungen anzustellen. Was er herausfindet, ist fast undenkbar und stellt alles in Frage. Dennoch können sich die beiden Brüder dem Widersacher nur gemeinsam stellen. Dabei erhalten sie Unterstützung von den Bewohnern der Straße, die für ihre Rechte einstehen wollen.

 

Auf den ersten Blick wirkt dieses Buch eigenartig. Romanfiguren aus Büchern herauszulesen, die dann lebendig werden und die man wieder zurück lesen kann. Dazu ein heraufziehender Kampf zwischen der realen und der fiktiven Wirklichkeit. Lange Zeit habe ich mich gefragt, was genau die Erzählung will. Worauf läuft es hinaus? Natürlich steckt das Buch voller Humor (die Darcys sind herrlich!) und häufig ist ein literarisches Augenzwinkern zu finden. Zugegebenermaßen konnte ich nicht jede Figur auf Anhieb zuordnen. Doch wer sich mit englischer Literatur befasst, wird sicher nicht enttäuscht.

Ein großes Thema des Buches ist sicher die Beziehung zwischen Geschwistern. Wie der eine den anderen sieht und wie man selbst meint, wie der andere einen sieht. Ich selbst bin eine „kleine“ Schwester. Jeder der Geschwister hat, kennt das sicherlich. Egal wie alt man ist, wenn man unter Geschwistern ist, nimmt jeder automatisch seine Rolle ein. So ergeht es auch Robert. Seit Charleys Geburt sieht er sich als sein Beschützer. Nur ein einziges Mal hat er seiner Ansicht nach darin versagt. Die Situation damals auf dem Schulhof, ist lange her, doch sie ist bei beiden Brüdern immer noch präsent. Kein Wunder, dass der andere Beschwörer genau in diese Wunde trifft. Doch der Plan geht nicht auf. Das Band zwischen den beiden ist stark.

Ein weiterer Aspekt ist die Art und Weise, wie man Figuren, Menschen und die Welt um sich herum interpretiert. Was ist Wahrheit? Ist unsere eigene Wahrheit nicht das, was wir in das, was wir erleben, sehen, fühlen hinein interpretieren? Im Grunde ist alles eine Sache der Interpretation. Das könnte ich endlos ausführen, doch es ist ein Denkanstoß, den der Roman gibt, den jeder für sich verfolgen sollte.

Es ist ein komisches, philosophisches und familiäres Buch. Mit einer Leichtigkeit und einer spürbaren tiefen Liebe zur Literatur geschrieben. Wunderbare Figuren, so meine Interpretation. Am Ende verstand ich sogar Uriah Heep, irgendwie. Ich hatte viel Freude beim Lesen. Darüber hinaus hat mich der Roman zum Nachdenken angeregt. Zwischen den Zeilen sind viele wichtige Fragen versteckt. Ein grandioses Buch, dass durch die vielen literarischen Figuren lebendig wird.