Rezension

Unsichtbar

Der Report der Magd - Margaret Atwood

Der Report der Magd
von Margaret Atwood

Bewertet mit 4.5 Sternen

Wir waren die Leute, über die nichts in der Zeitung stand. Wir lebten auf den leeren weißen Stellen, an den Rändern. Das gab uns mehr Freiheit.
Wir lebten in den Lücken zwischen den Geschichten.

Ich will diese Rezension nicht schreiben. Es ist nicht die erste Dystopie, die ich lese. Aber diese hier ist schrecklicher. Ich habe alle drei Bände der Panem-Trilogie gelesen und brauchte nach jedem einen großen Abstand, weil die losgetretenen Denkvorgänge so düster waren. Aber dies hier ist perverser.

Wir blicken mitten in den Gehirnwaschgang hinein, der auf unerbittliche Weise an einer jungen Frau vorgenommen wird. Das Schlimme ist, dass all die systemverordneten Maßnahmen, die an Unmenschlichkeit kaum mehr zu überbieten sind, religiös begründet werden - durch ein bis zur Unkenntlichkeit entstelltes, extremistisch missbrauchtes Christentum.

Bisher bin ich zwei Arten von Dystopien begegnet; nennen wir sie Anarchie-Dystopien und Kontrollstaat-Dystopien, wobei letztere meiner Erfahrung nach häufiger vorkommen, zu denen auch "Der Report der Magd" zählt und die eine Antwort auf die Frage zu finden versuchen, ob ein Individuum unter den gegebenen unfreien Bedingungen einen Teil seiner selbst bewahren kann, einen Rest an innerer Freiheit. Die Grenzen für diese Chance sind beim "Report der Magd" eng gesteckt; es sind winzige Nuancen von innerem Widerstand, an denen sich die Magd "Desfred" (ihren wahren Namen kennen wir nicht) immer wieder festklammert, um nicht ganz unterzugehen.

Aber dieses Buch wirft noch eine spezifischere Frage auf: wie ergeht es einer gleichberechtigten, modernen Frau, die Stück für Stück unerbittlich wieder in Abhängigkeit und Unterdrückung gezwungen wird? Und plötzlich ist dieses Buch aus den Achtziger Jahren erschreckend aktuell; allerdings - und hier erweist sich Frau Atwood nur bedingt als Prophetin - sind es keine christlichen Sekten, die heute solche Regierungsformen einzuführen versuchen.

Margaret Atwood schreibt meisterhaft. Dicht, bedrückend und spannend. Sie füttert den Leser mit Bruchstücken. Weil man mehr begreifen will, liest man weiter. Rückblenden in Romanen nerven mich in letzter Zeit zunehmend, aber Margaret Atwood beherrscht diese Technik sicher und setzt sie an den richtigen Stellen ein; niemals verliert man dadurch den Überblick noch die Spannung.

Nur das abschließende, aus der Zukunftsperspektive geschriebene Kapitel hatte für mein Empfinden einen, wie soll ich sagen - gewissermaßen erschlagenden Charakter. Es wirkte zynisch, dieses Schlusskapitel, kalt. Ein bisschen Wärme und Licht hätte mir gegen Ende gutgetan.

"Unsichtbar" sollen die Mägde in Atwoods Erzählung sein, gesichts- und gefühllose willige Werkzeuge. Und um diesem unglaublichen Missbrauch perfiderweise auch noch eine biblische Fundierung zu geben, wird als Motto das Buch Genesis herangezogen, nach dessen Schilderung Rahel ihrem Mann Jakob die Magd Bilha zwecks Kinderzeugung zur Verfügung stellte, da sie selber als unfruchtbar galt.

Aber ich will und kann mich damit nicht abfinden. Und ich gehe noch zwei biblische Generationen weiter zurück und finde dort Hagar, eine Magd, die das gleiche Schicksal erlitt. Oder? Mitten in einer Situation größter Einsamkeit, Entwürdigung und Verzweiflung begegnete ihr Gott und gab ihr eine Stimme. Eine Stimme für alle Frauen, die gering geschätzt, niedrig gehalten, verraten und verkauft wurden und noch immer werden.

Und sie nannte den Namen des HERRN, der mit ihr redete: Du bist ein Gott, der mich sieht.                                                                                (1. Mose 16.13)

Kommentare

wandagreen kommentierte am 24. Februar 2020 um 09:16

Meisterhaft.

"Ich will diese Rezension nicht schreiben. Es ist nicht die erste Dystopie, die ich lese. Aber diese hier ist schrecklicher."
 

"Und plötzlich ist dieses Buch aus den Achtziger Jahren erschreckend aktuell; allerdings - und hier erweist sich Frau Atwood nur bedingt als Prophetin - sind es keine christlichen Sekten, die heute solche Regierungsformen einzuführen versuchen."

Hast du "Unterwerfung" von Houellebeq gelesen? Obwohl ich diesen Autor sonst nicht schätze, fand ich dieses ein sehr wichtiges Buch. Weil aus männlicher Perspektive.

Ja, es ist grauenhaft, dieses Buch. Der zweite Band gibt ein wenig mehr Hoffnung!

Arbutus kommentierte am 24. Februar 2020 um 12:03

Habe ich. Ja, an das Buch musste ich beim Lesen auch hin und wieder denken. 

Schokoloko28 kommentierte am 24. Februar 2020 um 09:36

Tolle Rezension!

FIRIEL kommentierte am 24. Februar 2020 um 11:05

Klasse, Arbutus!

Emswashed kommentierte am 24. Februar 2020 um 11:48

Zu recht ist dieses Buch wieder "hochgespült" worden, dank Kurzserie im TV. Ich las es vor Jahren, aber es ist mir noch immer in Erinnerung (und das Buch in meinem Regal). Wirklich schöne Rezi!

Arbutus kommentierte am 01. April 2020 um 20:27

Danke Euch allen, lieb von Euch!